Mit Willen und Mut auf neuen Wegen
Zusammenfassend kann man sagen: Trotz all der widrigen Umstände haben Frauen aber immer wieder auch Wege gefunden, ihre Sexualität lustvoll zu leben, vorausgesetzt, sie wollten es und waren mutig genug – wenn schon nicht wirklich frei, selbstbestimmt und gleichwertig.
Frauen und Sexualität heute
Männliche Sichtweisen – noch zeitgemäß?
Wir waren und sind in unserer Lust immer noch von männlich dominierten Maßstäben und Bewertungen abhängig. Gerade auf „moderneren Kanälen“ wie Instagram, Facebook, Snapchat & Co scheint sich nicht viel geändert zu haben – zu oft fragen sich Frauen dort (wenn auch nicht direkt): Gefalle ich?
Der Beginn und das wahre Leben
Heute wissen wir definitiv sehr viel darüber, wie eine sinnliche, erotische Liebe beginnt, besser gesagt, wie sie beginnen sollte. Man denke an Tinder und all die anderen Plattformen: Hier erwarten wir uns schon vor dem ersten Treffen ausreichend Wissenswertes – ein entspanntes Sich-Annähern, ein wirkliches Kennenlernen durch Begegnung braucht dann etwas Zeit. Auch die Filmindustrie zeigt uns allerorten, wie Liebe starten und sein soll: romantisch, leidenschaftlich, für immer. Allerdings endet beinahe jeder Film dort, wo das wahre Leben beginnt.
Anziehung und dann?
Wie auch immer wir „gestartet“ sind, Sexualität beginnt meist mit einer starken Anziehung – das ist heute oft DER Grund, warum wir uns für jemanden entscheiden. Falls eine Beziehung daraus wird, also mehr als nur das Begehren verbindet, eröffnen sich – theoretisch – durch gemeinsames Gestalten, Probieren, Annehmen und Verführen bzw. Sich-verführen-Lassen unendliche Spielfelder. Viele erwarten jedoch, dass es von selbst so bleibt, wie es zu Beginn war. Das passiert in den allerwenigsten Fällen.
Wie Liebe bzw. Beziehung so gelebt wird, dass sie zumindest über einen gewissen Zeitraum für beide Teile als anregend, nährend, freudig und lustvoll erlebt werden kann – das zeigen uns die Filme nicht. Aber auch im echten Leben gibt es hier oft wenig Kompetenz. Natürlich haben sich neue Formen der Partnerschaft entwickelt und sind inzwischen salonfähig geworden: Gar manche Ehe (bisweilen sogar jede zweite!) hält nicht mehr bis in alle Ewigkeit, im Laufe des Lebens gibt es für viele Menschen mittlerweile mehrere Lieben und Beziehungen (schön, dass wir heute entscheiden können). Ob die dadurch gewonnenen Erfahrungen aber immer „lehrreich“ waren oder ob die „alten“ Muster weitergelebt werden, sei dahingestellt.
Über viele Generationen vererbte und oftmals auch unbewusst weitergegebene Verhaltensmuster und Sichtweisen wirken natürlich immer noch nach. Auch wenn wir dies partout nicht mehr wollen und uns selbst ganz bewusst und achtsam verhalten, es ist unsere Entwicklungsgeschichte: So manche Denkweise, so mancher moralische Anspruch sind auch heute noch dermaßen in uns Frauen verankert, dass wir nicht erkennen, wie sehr wir uns selbst und einander einschränken. Glaubenssätze und Mythen hemmen uns heute wie damals.
Mythen, Mythen, Mythen
Es gibt reihenweise Literatur über Mythen, die uns nach wie vor prägen – hier seien nur einige erwähnt: Das erste Mal tut weh, ein Orgasmus gehört immer dazu, Männer wollen immer, Männer können immer, der Orgasmus des Mannes ist wichtiger, nur spontaner Sex ist gut, Pornos stimulieren, je größer der Penis, umso mehr Spaß für sie, nur Frauen können einen Orgasmus vorspielen, bei richtig gutem Sex kommen immer beide gleichzeitig, frau muss nicht erregt sein, einen Penis aufnehmen kann sie immer usw. usf.
Das Glück des Mannes heißt: ich will! – Das Glück des Weibes heißt: er will!
Friedrich Nietzsche, „Also sprach Zarathustra“
Mythos gute Mutter
Auch heute noch haben viele das Bild der „guten Frau“ im Kopf. Die Hure oder Schlampe, also der sexuell aktive, lustvolle und freie Teil der Frau, hat spätestens mit dem ersten Kind und den Herausforderungen des Alltags das Ehebett zu verlassen. Die Frauen, mit denen Männer eine alltagstaugliche Partnerschaft leben und Kinder großziehen möchten, soll doch bitte seriös, mütterlich, verständnisvoll, schon auch selbstständig, in jedem Fall aber alltagstauglich und geduldig sein.
Die Guten ins Töpfchen
Wir müssen nicht weit schauen: Einige der alten Geschichten und Verhaltensweisen sind wir vielleicht zum Teil losgeworden, dafür haben wir uns neue geschaffen: Die allgegenwärtigen Medien halten uns ständig vor Augen, wonach wir uns richten sollen, wenn wir – bis zu einem gewissen Grad – dazugehören wollen.
Wir alle sind nicht frei davon, uns manchmal zu denken: So wie die würde ich nie außer Haus gehen, die bleibt auch nur des Geldes wegen etc. Unsere Gesellschaft kennt viele destruktive Regeln, die beide Geschlechter in enge Rollen zwängen wollen, denn so ist die Masse auch leichter zu formen. Viele neue Regeln sind zu oft auch stark männlich dominiert und werden von Frauen bewusst oder unbewusst mitgetragen.
Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung gelingt immer öfter, wenn wir Frauen aufhören, einander eifersüchtig zu bewerten bzw. zu bekämpfen. Es ist wunderbar, zu sehen, wie Frauen einander stärken, wohltun und Kraft schenken können. Persönlich, privat und beruflich, also in jeder Hinsicht, wenn sie wollen.
Die Generation Porno und ihre Mythen
Heute ist es in erster Linie auch die Pornoindustrie, die ständig neue Mythen schafft: Frauen kommen alleine durch wilden Geschlechtsverkehr, Analverkehr ist ganz normal, wer nicht mitmacht, ist verklemmt, Männer spritzen immer weit, alle Frauen lieben Oralsex und schlucken, Gefühle und Sex müssen nichts miteinander zu tun haben, Blasen ist ein Freundschaftsdienst, das kann frau immer, das ist kein Sex, Gruppensex ist normal, Männer können mindestens dreimal hintereinander entladen, die moderne, aufgeschlossene Frau macht alles mit. Sie und ich wissen: Diese Liste könnte noch sehr viel länger werden.
Pornos können anregen und inspirieren. Die Dosis macht das Gift – Pornos stumpfen bei häufigem oder ständigem Konsum auch ab. Wie viel Neues braucht es, was sorgt für den zusätzlichen Kick? Kann eine reale Frau, ein realer Mann noch genügen? Die eigene Phantasie wird faul – lieber konsumieren wir, als selbst auf Phantasiereise zu gehen. So bekommt uns dieser Industriezweig immer mehr in den Griff, wir wollen mehr, wir wollen es härter, brutaler … Von einer lustvollen, sinnlichen Hingabe, vom leidenschaftlichen oder liebevollen Erkunden der eigenen Bedürfnisse im erotischen Spiel, dem mutigen Sich-Zeigen und Ausprobieren sind wir hier meilenweit entfernt.
Immer öfter kommen – auch sehr junge – Menschen zur Sexualberatung. Sie sind verunsichert, weil sie ihre Sexualität real ganz anders leben möchten, aber oft nicht wissen wie. Viele bemerken, dass Sex sehr hohl sein kann, wenn es nur um raschen Konsum geht, wollen aber dennoch gefallen, „gut im Bett“ sein und mitspielen.
Eine zwanzigjährige Klientin durfte ich bei der Erforschung ihrer Bedürfnisse unterstützen – und auch dabei, „mutig“ zu werden, um ihrem Freund zeigen und sagen zu können, was sie wirklich wolle. Die beiden waren schon seit zwei Jahren zusammen und Sexualität hatte stets geheißen: Küssen mit folgendem Geschlechtsverkehr. Er wünschte sich auch für seine Freundin Orgasmen, hatte aber keine anderen Bilder im Kopf.