Die germanische Blutsbrüderschaft. Leopold Hellmuth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leopold Hellmuth
Издательство: Автор
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Жанр произведения: История
Год издания: 0
isbn: 9783964260185
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verbreitet war. Nicht nur die Kelten, Germanen, Slawen, Skythen, Iberer, Lydier, Meder und Araber praktizierten sie13, sondern auch bei einer ganzen Reihe von anderen Völkern Asiens, z. B. den Türken und Mongolen, manchen Stämmen der Chinesen in der Frühzeit ihrer Kultur und insbesondere den Bewohnern des Malaiischen Archipels14, sowie den Ureinwohnern Australiens war diese Einrichtung bekannt. In keinem anderen Erdteil jedoch hat die Besiegelung von Freundschaften und Bündnissen durch das Vermischen einiger Blutstropfen der Betroffenen eine derartige Bedeutsamkeit und eine so erstaunliche Verbreitung erlangt wie in Afrika: dort scheint es – zumindest vor dem Eindringen der europäischen Zivilisation, der diese wohl jahrtausendealte Institution binnen kurzer Zeit zum Opfer fiel – südlich der Sahara tatsächlich nur sehr wenige Stämme gegeben zu haben, welche die Blutsbrüderschaft nicht kannten15. Ob diese Einrichtung auch der Urbevölkerung Amerikas bekannt war, oder ob sich die wenigen aus diesem Erdteil stammenden Beschreibungen blutsbrüderschaftsähnlicher Verbindungen auf europäischen Einfluß zurückführen lassen, ist eine rein ethnologische Frage16, die ich nicht beantworten kann und deren Lösung für die gegenwärtige Arbeit kaum von Bedeutung wäre.

      Eines aber ist auch so gewiß: die Einrichtung der Blutsbrüderschaft findet sich bei so weit voneinander entfernten Völkern wie etwa den Negerstämmen Äquatorialafrikas, indogermanischen Völkern im Norden und Südosten Europas sowie den Eingeborenen Süd- und Ostasiens, Völkern und Stämmen, die im Verlauf ihrer historischen Entwicklung nie miteinander in Berührung gekommen sein können; an eine Ausbreitung der Institution der Blutsbrüderschaft durch Entlehnung (wenngleich eine solche in manchen Fällen gewiß in Betracht gezogen werden muß) von einem der eben genannten Völker zu den übrigen ist bei der oben angedeuteten weltweiten Verbreitung sicherlich nicht zu denken. Ob es sich aber um eine Erbsituation (die dann auf gemeinsame Ahnen der genannten Völker zurückgehen müßte) oder aber um spontane Parallelschöpfungen handelt, wird sich mit den bisher zur Verfügung stehenden Mitteln kaum entscheiden lassen.

      Sollte die so überaus weitverbreitete Einrichtung der Blutsbrüderschaft wie z. B. die in ihrer Struktur und Funktion trotz weltweiter Verbreitung verblüffend „ähnlichen“ Initiationsriten nicht vielleicht eher als eine Ausformung dessen angesehen werden können, was Adolf BASTIAN mit dem Begriff Elementargedanke17 zu erfassen versucht hatte: als Ausdruck einer allgemeinmenschlichen Grundvorstellung? BASTIANs Anregungen wurden zu seiner Zeit heftig bekämpft und fielen dann ziemlich rasch der Vergessenheit anheim. Ich halte es jedoch für unzweifelhaft, daß es sich dabei um eine Fragestellung von allergrößter Bedeutsamkeit handelt, die unmittelbar in den Bereich der Problematik der Konstitution der menschlichen Psyche führt. Verständlicherweise kann es nicht das Ziel dieser Arbeit sein, zu einer „Archetypik der menschlichen Psyche“ vorzustoßen. Die folgenden Ausführungen wollen nur Anstoß zu derartigen Überlegungen sein und – soweit dies bei einem solchen Unternehmen möglich ist – dazu ein reichhaltiges und unmittelbares Anschauungsmaterial bieten.

      Die Berechtigung solcher Überlegungen wäre allerdings nur dann gegeben, wenn sich tatsächlich zeigen ließe, daß mit dem von der Völkerkunde geschaffenen Begriff wirklich überall „das selbe“ gemeint ist. Worauf beruht aber letzten Endes diese Annahme? Lassen sich denn bei derartigen räumlichen und zeitlichen Unterschieden überhaupt Vergleiche anstellen, und worin besteht die Vergleichbarkeit? Wenn wir die Institution der Blutsbrüderschaft als eine traditionelle rituelle Vermischung des Blutes der Beteiligten mit der Absicht, dadurch eine nahe Verbindung oder ein Bündnis zu stiften oder zu bekräftigen, zu definieren versuchen und alle anderen mit dem menschlichen Blut verknüpften Riten beiseite lassen, dann zeigt sich tatsächlich, daß sich Entsprechungen dieses „Modells“ in den verschiedensten Kulturen wiederfinden. Innerhalb seines Umrisses scheinen sich dem Versuch, die Elemente, aus denen es jeweils besteht, – auch wenn dieselben aus verschieden gearteten Kulturen stammen – miteinander zu vergleichen, keine grundsätzlichen Bedenken entgegenzustellen.

      Nun handelt es sich aber bei der gegenwärtigen Arbeit weder um eine völkerkundliche Untersuchung der Blutsbrüderschaft mit der Absicht, eine neue Theorie derselben zu entwickeln, noch um den Versuch, eine umfassende ethnologische „Gesamttypologie“ zu erstellen, sondern um eine Arbeit, in derem Mittelpunkt die germanische Form der Blutsbrüderschaft steht und bei der das völkerkundliche Material nur um seiner Beziehungen zur Germanistik willen herangezogen wird.

      Neben der bereits angedeuteten Aufgabe der Beschreibung und Erklärung der nordgermanischen Form der Blutsbrüderschaft ergibt sich als zweite Hauptaufgabe die Beantwortung der Frage, inwieweit die germanische Blutsbrüderschaft als „typisch“ angesehen werden kann: eine Fragestellung, die meines Wissens von germanistischer Seite noch nie systematisch in Angriff genommen worden ist.18 Es wird danach zu fragen sein, welche Merkmale der germanischen Blutsbrüderschaft sich auch bei anderen Völkern wiederfinden, welche sonst bekannten Züge ihr fehlen, aber auch, ob es sich dabei um Wesentliches, nicht Wegzudenkendes oder nur um Äußerlichkeiten handelt. Möglicherweise wird sich dabei zeigen, daß das eine oder andere Merkmal nur den Nordgermanen eigentümlich war, sonst aber nirgendwo wiederkehrt. Das Ergebnis dieses über die skizzierte „innergermanistische“ Fragestellung noch hinausgreifenden Problemkreises müßte in der Feststellung liegen, wieweit und inwiefern spezifisch germanische Form der Blutsbrüderschaft Teil hat an einer über die einzelnen Kulturen hinausgehenden „Ähnlichkeit“ der zu untersuchenden Institution.

      „Typische“ Elemente des Verbrüderungsrituals bzw. typische Konsequenzen der Blutsbrüderschaft sind meiner Auffassung nach solche, die die Institution konstituieren, und zwar nur diejenigen, die bei mehreren genetisch nicht näher verwandten und kulturell voneinander nicht beeinflußten Völkern vorkommen.

      Allerdings gibt es in diesem Sinne außer den in meinem Definitionsversuch genannten Grundtatsachen der Blutmischung und der Gemeinschaftsstiftung kein einziges Element, das überall vorkommt. Manche sind relativ selten, manche ziemlich häufig. Je häufiger ein Element in sehr verschiedenen Weltgegenden auftritt, desto „typischer“ wird man es wohl nennen dürfen, je mehr sich seine Verbreitung völliger Isoliertheit annähert, desto eher scheint die Bezeichnung „atypisch“ gerechtfertigt.

      Spricht man allerdings von einem völkerkundlichen „Typus der Blutsbrüderschaft“ (etwa synonym mit „der Elementargedanke Blutsbrüderschaft“), dann gäbe es in diesem Sinne natürlich überhaupt keine „atypischen“ Elemente: denn alle Elemente, die als Teile der Blutsbrüderschaft auftreten können, wären in diesem Fall typisch. Eine immer vollständigere Sammlung des Materials würde vermutlich in allen Fällen, wo das Problem der Typik zur Entscheidung steht, immer deutlicher klären können, welche Elemente zu den typischen und welche zu den nur zufällig auftretenden in einer solchen um ihre Typik zu befragenden „Gruppe“ von Phänomenen zu rechnen sei.

      Entscheidend ist der Standpunkt, den man einnimmt. Vergleicht man die konstituierenden Elemente der Institution in verschiedenen Kulturen nach typologischen Gesichtspunkten, dann werden sich typische (d. h. mehreren genetisch nicht näher verwandten und kulturell voneinander unabhängigen Völkern gemeinsame) Merkmale erkennen lassen. Sehr seltene bzw. vollständig isolierte Elemente sind von einem solchen übergeordneten, global vergleichenden Blickpunkt aus als nicht typisch (als „atypisch“) anzusprechen. Verändert man nun seinen Standpunkt und betrachtet die zu untersuchende Institution aus dem Blickwinkel desjenigen Volkes, dessen Blutsbrüderschaft in einem oder in mehreren konstituierenden Elementen atypisch ist, dann freilich ist eben dieses Abweichen von der allgemeinen Norm gerade für dieses bestimmte Volk wiederum typisch und signifikativ. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß man nur durch einen Wechsel der Blickrichtung zu einer solchen – eben nur scheinbaren – Doppeldeutigkeit gelangt. Durch die Berücksichtigung der verschiedenartigen Blickrichtungen verschwindet dieser scheinbare Widerspruch.

      Doch darf man eines nicht außer acht lassen: die Erkenntnis der jeweils für ein bestimmtes Volk oder einen bestimmten Stamm typischen Elemente ist durch die Erkenntnis der (global vergleichend gesehen) atypischen Elemente bedingt. Nur dann, wenn ich erkannt habe, was allgemein betrachtet typisch oder atypisch ist, kann ich zur Konstatierung des jeweils Besonderen, für eine bestimmte Kultur Typischen vordringen. Ohne den ersten Schritt der Feststellung von typischen bzw. nicht typischen Merkmalen ist auch der