„Nimm das Körbchen und hol Kirschen, saure“, unterbricht sie meine Betrachtungen. „Morgen, kommen die Verwandten vom Dorf herauf, da müssen wir was hinstellen. Bring genug, dann mache ich gleich zwei Kirschkuchen, dann haben wir an beiden Tagen was zum Kaffee.“
Morgen am Sonntag, heißt es für unsere Familie früh aufstehen. Zuerst in den Stall, das Vieh versorgen, dann Frühstück machen, sich selbst schnell sonntäglich herrichten, in die Kirche gehen, gleich wieder nach Hause laufen, Mittagessen kochen, – fünf Leute hatten Hunger – , abwaschen und endlich – frei. Zwei Stunden frei – herrliche Stunden! Sonja und ich – frei für die Obstgärten, frei für die Wiesen, frei für den Wald. Auf Bänkchen sitzen, die Beine baumeln lassen und erzählen. Harmloses, Wichtiges. Sachen, die man nur flüstern durfte, oft mit dem Mund am Ohr der anderen.
Was wir alles machen würden, später, und natürlich wollten wir immer beieinanderbleiben. Das war ja klar! Am besten wir machten auch gemeinsam Hochzeit. Was für ein Aufsehen das in unserem Dorf geben würde. Mit weißen Kleidern und langen Schleiern. Die trugen dann Mädchen mit Blumen im Haar. Wir würden aussehen wie Prinzessinnen. Die Bräutigame wurden zwischen uns stets gerecht verteilt. Einmal ich mit Dieter, dann Sonja mit Günther oder umgekehrt. Uns fielen immer wieder andere Jungs ein, die wir nach Belieben hin und her tauschen konnten.
Ich schlucke, schlucke und schluchze, während ich im Zug sitze, Zeit habe zu denken, und mich meine Gedanken überwältigen. Das gleichmäßige Ratta-ta, Ratta-ta der Räder beruhigt mich wieder und wenn ich genau hinhöre, kann ich sogar Worte heraushören wie: „Ich fahre heim, ich fahre heim, ich fahre heim ...“
Heim! Ich lasse die Erinnerungen zu, wie sie kommen. Wieder bin ich zu Hause in meiner Kindheit! Wie war das noch? Diese Sonntage, die immer so erwartungsvoll anfingen? Um vier Uhr am Nachmittag hieß es, wieder zu Hause sein. Kaffeetisch decken, brav bei den Verwandten sitzen, abräumen, danach mit der Familie den ganzen Hof inspizieren.
„Ja, s’ Vieh steht guat da. Bloß no zwoa Saua? Hent ihr gschlachdet? S’ Heu trocka reibrocht? S’ war jo a Sauwetter, de letschde Däg.“ So in etwa lief die Unterhaltung zwischen dem Besuch und meinen Eltern. „Ja, euer Sach isch ordentlich“, war am Ende das höchste Lob. Die spitzen Kommentare wurden überhört, im Nachhinein im engen Familienkreis aber umso lauter und feindseliger diskutiert!
In bester Stimmung wurde später zum deftigen Abendvesper am Küchentisch Platz genommen. Jedermann langte kräftig zu und genoss die hausgemachten Köstlichkeiten, die Mutter schon am Morgen auf großen Platten zurechtgelegt hatte. Und endlich war es dann auch Zeit für den Heimweg. Ein freundliches Winken auf beiden Seiten und mit behäbigen, festen Schritten machten sich die vom unteren Dorf auf nach Hause. Wenn wir an einer bestimmten Stelle des Hofes standen, konnten wir noch lange sehen, wie sie in den Abend marschierten. Jetzt nur schnell umziehen, melken, Kannen spülen und endlich gehörte der Abend uns.
Wir setzten uns auf die Bank vor dem Haus, mit immer den gleichen Leuten. Sie kamen nach kurzer Zeit aus ihren Häusern, unsere Nachbarn, als hätten sie miteinander eine geheime Verabredung getroffen. Nachbarin Magda und ihr Mann Jakob, der Großbauer Rudolf Hellstern mit seiner Frau Elsa. Jedermann nannte ihn nur den Hektarkönig. Er war der reichste Mann im Ort und wahrscheinlich sogar in der Umgebung. Sein Spruch, der zum geflügelten Wort in der ganzen Gegend geworden war, klingt mir heute noch im Ohr: „Schönheit vergeht, der Hektar besteht!“ Danach war für ihn die Frau ausgesucht worden und so hat er es auch mit seinen Kindern, zwei Söhnen, gemacht. Mit seinem stets breiten, zufriedenen Lächeln lehnte er sich auf der groben Holzbank neben der Haustür zurück, um von Zeit zu Zeit einen tiefen Schluck aus seinem Mostglas zu trinken, das zwischen seinen Füßen auf der Erde stand. Der Hofdreck klebte nach einer Weile an seinem Glas wie Hagelzucker an den Weihnachtsbrötle. Er fuhr immer in gleichmäßigen Abständen mit dem Glasboden über seinen rechten Schenkel. Am Ende der Woche war die Schleifbahn schon von Weitem zu sehen. Sie war ein untrügliches Zeichen, ob die Hose diese Woche gewaschen worden war oder ob seine Frau Elsa gesagt hatte: „Die Hos ziesch nomal an, des duats nomal!“
Später kam noch Sonjas Mutter mit ihrem Mann Vinzenz dazu. Seltener Arthur, den alle nur den Häusler nannten. Arthur war ledig und hatte immer ein wenig andere Gedanken als andere, die er hartnäckig zum Besten gab, auch wenn es keiner hören wollte. „Der mit seinem obergescheiten G’schwätz“, hieß es da oft, „muss dauernd beweisa, dass er auf der Oberschul war.“
Oft hatte Edelgard, Sonjas Mutter, ihre liebe Not mit ihm, ihrem Bruder, wenn der allzu sehr den Hofbauern herauskehrte und ihrem Mann Vinne damit den Tag verdarb. Er wohnte im Anbau am Haupthaus, den er sich als Wohnstätte gerichtet hatte. Jeden Mittag saß er mit der Familie am Tisch und langte kräftig zu. „Wer recht schafft, der hat au Hunger.“ Geschafft hat er fleißig, als Familienknecht und nebenher noch als Waldarbeiter, denn Geld war knapp, man musste schon noch „was dazu macha, sonst langt’s net“. Auf jeden Fall war er der Meinung, dass er ein wichtiges Wörtle mitzureden hatte, denn er hatte schließlich den Traktor gekauft von seinem Waldgeld. Damit war er für die Familie ein unentbehrlicher Mann geworden.
Es war mit der Zeit auf dem Hof zu einem ungeschriebenen Gesetz geworden, dass nicht mal Vinzenz, Sonjas Vater, ihm was zu sagen hatte. Der war doch bloß a „Herramale“, mit seinem wichtigtuerischen Gehabe als Vertreter für Bettwäsche und Vorhänge. „Das ist man nicht, wenn man einen Bauernhof zu Hause hat.“ Sowas dachte nicht allein der Arthur über seinen Schwager. Also wurde er, Arthur, mit der Zeit der heimliche Herr auf dem Hof.
Die Spannungen zwischen den ungleichen Schwägern wurden im Laufe der Zeit für jedermann spürbar. Besonders schlimm war es bei den gemeinsamen Mahlzeiten, wenn die ganze Familie um den großen Tisch in der Küche saß. Dann gab ganz schnell ein Wort das andere. Bestimmend der Arthur, angriffslustig der Vinne. Dann konnte man deutlich sehen, wie Edelgard den Kopf einzog. Ihr Hals wurde förmlich kürzer, die Schultern fielen nach vorn, sie bediente dann noch emsiger, aber ihr Gang wurde schlurfig und müde. Vier Kinder hielten den Atem an und wünschten sich an einen anderen Fleck auf der Erde.
So saß die sonntägliche Hofrunde draußen in der beginnenden Dämmerung, wann immer es das Wetter erlaubte. Das Abendprogramm konnte beginnen. Wir Kinder versuchten stets, uns unsichtbar zu machen, denn was da alles erzählt wurde, ließ uns staunen oder gruseln. Das meiste war für Kinderohren nur bedingt geeignet und verfolgte uns noch lange bis unter die Bettdecke, die man sich ganz fest über den Kopf ziehen musste, wenn die Angst mit ins Zimmer schlüpfte. Je ruhiger wir Kinder waren, desto mehr konnten wir erfahren. Und wir verhielten uns ruhig. Mucksmäuschenstill waren wir! Wenn wir uns weit in den Abendschatten zurückzogen, vergaßen die Erwachsenen, dass wir da waren. Bis es jemandem bei einem besonders heiklen Thema wieder einfiel: „Schwätzet net so Zeugs, die Junge spitzet d’ Ohra!“ Dann war es schlagartig ruhig. Der letzte angefangene Satz stand förmlich in der Abendstille. Wenn uns dann noch energisch mitgeteilt wurde: „Ihr g’höret scho lang ens Bett“, waren wir förmlich nicht mehr zu sehen.
Es gab damals nichts Interessanteres für uns als diesen Dorfklatsch. Manch einer aus dem Flecken wurde von uns Kindern in der nächsten Zeit besonders intensiv angeschaut. Mal scheu, mal nachdenklich. In besonders bedenklichen Fällen starrten wir den Leuten hinterher, mal mit Herzklopfen, mal mit Gekicher. Irgendwann am späten Abend kam der letzte energische Befehl von unserer Mutter: „Jetzt aber ab und glei ens Bett! Morgen isch Schul, dann wollet ihr wieder net aufstehen und ich hab mei liebe Not mit euch!“ Diesem Ton wagte keiner mehr zu widersprechen. Wir drückten uns noch ein bisschen in den Ecken herum, denn jede zusätzliche Minute aufbleiben zählte als Sieg über die Eltern. Spannend und unvergessen waren sie, diese Sonntagabende auf dem Hof mit unseren Nachbarn.
Waschen vor dem Zubettgehen entfiel regelmäßig. Einmal in der Woche richtig abseifen war genug. Am Morgen ein paar Spritzer Wasser ins Gesicht und Zähne putzen, das genügte! Der Zuber mit dem Badewasser, der samstags in der Küche aufgestellt wurde, sah nach den drei Kindern zwar aus wie das Spülwasser nach einem guten Sonntagsessen, fettig und trüb, manchmal sogar mit diversen Stückchen drin, aber wirklich