Gerade biegt Arthur auf die Straße nach Muri ein, als er den ersten Leuten von der hiesigen Feuerwehr begegnet. Hält und sieht sich neugierig um. „Was ist passiert, Willi? Wo brennt’s?“, fragt er den ersten, der ihm gerade über den Weg läuft. „Gut, dass du da bist, Arthur“, kommt es ernst von dem Feuerwehrmann zurück. „Es geht um eure Sonja. Die ist nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Wir fangen gerade an zu suchen.“
Mit einem Satz springt Arthur vom Traktor. Das ist etwas, was er im Moment zwar hört, aber überhaupt nicht einordnen kann. Das ist fremd. Automatisch gehen seine Gedanken sofort zu den Frauen daheim. „Wie mag es ihnen gehen?“ Er ahnt, dass er zuhause dringend gebraucht würde. Trotzdem bestimmt er kurz: „Ich suche mit!“ Das ist ihm im Augenblick näher und wichtiger. „Ja, mach das. Komm mit mir und meinem Trupp. Wir fangen mit dem unteren Teil der Strecke vom Fluss aus an.“
Inzwischen lag eine ungeheure Spannung über den Suchenden. Jeder von ihnen fürchtete mittlerweile, er könnte etwas finden, was er sich nicht wünschte. Es war ein Junge der Jungfeuerwehr, der sie fand. Der rief und schrie: „Hilfe, hier! Hil.....“ Das letzte ‚Hilfe‘ blieb ihm buchstäblich im Hals stecken. Der Magen würgte ihm entgegen. Er brach sich die Seele aus dem Leib, der Junge. Einer hupte. Lange Pause, noch mal lange. Ein Klagen, das jeden, der den Ton hören musste, erschauern ließ.
Ein Beben erfasst den abendlichen Wald. Alles rennt. „Der Ton kommt doch vom Berg!“ Sie keuchen den Berg hoch. Von allen Seiten kommen sie zum Hupton. „Da, da unten!“, schreit es ihnen entgegen. „Ein kleines Stück unterhalb der Teerstraße, da liegt sie.“
Wer mitgesucht hat oder zufällig vorbeikommt, sieht sich den Fundort an, zertrampelt Spuren, die im Nachhinein so wichtig gewesen wären. Das Entsetzen über den Anblick der Leiche, das Blutbad, das sie ertragen müssen, lässt die Männer verstummen oder aufstöhnen wie im tiefsten Schmerz, lässt sie in die Büsche taumeln, wo sie sich erbrechen, lässt sie weinen und beten.
Ein Kripobeamter sagt Jahrzehnte später: „Ich war wie gelähmt von dem, was ich da sehen musste. Es überstieg meine Vorstellungskraft. Nur weg von diesem grauenhaften Anblick! Nur einen Augenblick umdrehen und Welt sehen, die noch so war wie immer! Ich rannte zwischen die Tannen, konnte es nicht mehr ertragen, wie Tod aussehen konnte. Ich lehnte mich an einen Baum, brauchte Hilfe, konnte nur noch beten. Und ich betete: Lieber Gott, lass uns den Täter finden! Hilf uns, den Täter zu finden, hilf uns! Sonst möchte ich nie mehr was von dir!“
(aus Befragung Kommissar I. im August 2014)
HAUSSCHATTEN
Er wusste, dass er zu Hause nichts sagen oder fragen durfte wegen seiner Ängste, die ihn seit dem Tod seiner großen Schwester verfolgten. Wie oft schon hatte er versucht, bei der Mutter Antworten auf sein Warum zu bekommen. „Jetzt nicht“, sagte die dann oft mit schmerzlich verzogenem Gesicht. Und beim Vater ging gar nichts. Der wurde sofort grob: „Hast du nichts anderes zu tun, als wie dumme Fragen stellen? Mach deine Arbeit und lass mir meine Ruhe.“
Dabei hätte er doch so viele Fragen an die Eltern gehabt, also solche wie „Wer passt jetzt eigentlich auf uns drei auf, den Hannes, den Ludwig und mich? Das ist doch gefährlich, wenn wir kehren müssen hinter der Scheune etwa, wo uns keiner sieht. Da kann sich doch leicht einer anschleichen.“ oder „Wie hat der das gemacht mit der Sonja, wie kriegt der die tot? Warum hat sie denn nicht um Hilfe geschrien?“ Er, Jürgen, wusste doch ganz genau, wie stark seine Schwester war. Keine Chance hatte er gegen sie, wenn die mal richtig hinlangte. Schließlich gab er es auf, quälte sich durch den Tag und fürchtete die Nacht, alleine in der Dunkelheit seines Zimmers.
Es kostete den Jungen jeden Tag eine große Überwindung, in den dunklen Hausgang zu gehen. Schon wenn er die Tür aufmachte, hielt er den Atem an. Er wollte ihn nicht riechen, diesen Geruch nach Finsternis, feuchter Kühle und der unbeschreiblichen Mischung aus dem Unheimlichen, das ihn aus jeder dunklen Ecke ansprang. Jürgen ließ die schwere Eingangstür aus Holz, die immer so seltsame Geräusche von sich gab, hinter sich offen, als könnte er vom Sonnenlicht und der sommerlichen Wärme etwas ins Haus mitnehmen.
Er hatte auch festgestellt, dass die Treppenstufen, die nach oben in die Wohnung führten, weniger laut knarrten, wenn er schnell über sie tappte. Langsam und leise schleichen ging gar nicht. Er konnte den Flur nicht schnell genug hinter sich lassen. Es gab Tage, an denen er fest davon überzeugt war, in der Dunkelheit unter der Treppe sitze einer. Jürgen hätte auch schwören können, dass er jemanden schnaufen hörte. Ganz deutlich war das zu hören, wenn er am Abend dem Vater ein Bier aus dem Keller holen sollte.
Dann meldete sich das Angstgespenst in seiner Brust und umklammerte ihn ganz stark, so dass er fast keine Luft mehr bekam. Irgendwie schaffte er es aber immer wieder, während kaltes Grausen über seinen Rücken lief. Hoch und runter lief es, immer abwechselnd, runter und hoch, hin und her. Das rollte und rollte wie ein Wellholz auf dem Nudelteig, von einer Richtung in die andere. Froh war er, wenn er sich in die hell erleuchtete Küche retten konnte und dem Vater vor lauter Erleichterung mit weit aufgerissenen Augen, viel zu laut, die Flasche ungestüm auf den Tisch stellte.
„Spinnst du, was rennst denn so? Im a Weile lässt du noch die Flasche fallen, dann haben wir die Sauerei.“ Die Mutter hob dann nur den Kopf und sah ihrem Sohn still ins Gesicht mit einem fernen Blick, den Jürgen von ihr nicht kannte. Dieses Schauen der Mutter war fremd und neu. Er spürte, dass sie weit weg war von ihnen.
Er hatte auch bemerkt, dass der Vater nicht mehr mit der Mutter zurechtkam. Der war jetzt noch öfter unterwegs als früher. Es vermisste ihn auch keiner. Im Gegenteil. Es war ein ruhigeres Arbeiten und Leben auf dem Hof.
Der Kurtle hatte sicher Recht. Der sagte nämlich in der großen Pause zu ihm: „Du wirst schon sehen, bestimmt müsst ihr jetzt alle sterben. Du als nächster, weil du gleich nach deiner Schwester kommst. Solche machen das immer so, dem Alter nach, weißt, halt nacheinander.“ Im Kreis standen sie beisammen auf dem Schulhof und verdrückten, zwischen den ziemlich präzisen Mordvoraussagen, hungrig ihre Vesperbrote. Die anderen nickten arg mit dem Kopf, als wüssten sie alle genau Bescheid, was mit ihm und seinen Geschwistern in der nächsten Zeit passieren würde.
Eigentlich ging es ihm gar nicht so schlecht, denn seit Tagen schon, um genau zu sein, seit dem Tod seiner Schwester, war er der Gefragteste unter seinen Mitschülern. Jeder wollte plötzlich sein Freund sein, tat sich wichtig mit ihm. Aber heute, als er diese ungeheuerliche Neuigkeit hörte, wäre es ihm lieber gewesen, er hätte wohin verschlupfen können, wo ihn kein Mensch auf der Welt mehr finden konnte.
Er dachte an seine zwei Brüder. Vielleicht war ja einer von denen der nächste und nicht gerade er. Er würde heute Abend auf jeden Fall intensiv um eine gute Lösung beten. „Das hilft“, hatte die Mutter früher immer gesagt, wenn in der Familie irgendwas Schlimmes passiert war und es einfach nicht weiterging. Er wusste bloß noch nicht, wen er von den Brüdern opfern sollte. Den Hannes oder den Ludwig? Über die hatte er schon das Sagen und konnte oft bestimmen, wo es lang ging. Wobei ihn der Ludwig mehr ärgerte und verpetzte. Wegen dem hatte er schon mehr Hausarreste aushalten müssen, als wie er Vierer in Klassenarbeiten geschrieben hatte. Aber dafür konnte der gut Fußball spielen und das würde ihm, Jürgen, bestimmt fehlen. Also der Hannes! Aber auch das hätte Auswirkungen auf sein Leben und zwar schlechte. Der Hannes war noch klein, gerade mal sechs Jahre alt, aber dem konnte er schon so manche Arbeit auf dem Hof und im Stall aufs Auge drücken, wenn er selbst keine Lust dazu hatte. Wenn man dem noch versprach: „Du darfst am Sonntag mit in die Hütte“, dann machte Hannes ohne Murren alles für einen. Ihre Hütte im Wald war nämlich ein sicherer Ort, wo man alles tun konnte und wo die Erwachsenen einen nicht störten.
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