Er schaute zu ihr hinüber, als erwarte er ein abschätziges Lächeln, aber Anne sagte ganz ruhig: „Dr. Meyer, wenn man mit Professor Scherrer zusammenarbeitet, dann lernt man auch die altägyptische Kultur kennen. Sie wissen doch um seine Vorliebe.“
„Lassen Sie die Gehirne ruhig weiterdenken“, sagte Meyer und schaute forschend zu Boden. „Hier ist Ihre Pflanze!“
Anne ging zu ihm und sah erstaunt auf eine kleine Pflanze, die deutlich zurückgesetzt hatte. Zwischen braunen Blättern ragte eine kleine Ähre nach oben, die Schötchen trug. Zwischen all den Habichtskräutern war sie kaum zu sehen.
„Das ist Ihre Pflanze“, sagte Meyer.
„Meine Pflanze?“, wunderte sich Anne. „Warum ist das meine Pflanze?“
„Vom Gefühl her weiß ich, dass diese Pflanze für Sie eine ganz besondere Bedeutung hat. Gestern war sie noch ganz grün und begann zu fruchten. Schade, dass sie heute abgestorben ist.“
„Vom Gefühl her“, lachte Anne, „und das sagen Sie hier zwischen all den Gehirnen.“
„Das Gehirn ist nicht das Wichtigste, sagten Sie selbst“, antwortete Meyer lächelnd. „Kennen Sie die Pflanze?“
„Sie kennen sie nicht?“, fragte Anne erstaunt.
„Doch“, sagte Meyer. „Ich kenne sie schon seit langer Zeit und habe sie überall gesucht. Mein Gefühl sagt mir, dass ich sie jetzt endlich gefunden habe.“
„Dann nehmen wir den Schatz mit“, schlug Anne vor. „Es ist Arabidopsis, die Ackerschmalwand. Sie hat größte Bedeutung für die Wissenschaft bekommen. Alle botanisch genetischen Institute arbeiten mit ihr, weil sie ein einfaches Genom hat und sich so gut verändern lässt.“
„Ich weiß“, sagte Meyer. „Aber dieses Exemplar hat für Sie eine ganz besondere Bedeutung. Nehmen Sie die Pflanze mit.“
„Soll ich sie herausziehen?“, fragte Anne. Sie bückte sich und zog das Pflänzchen aus dem Boden. Braun und welk lagen die Blätter in ihrer Hand und unscheinbar war auch die kleine Ähre mit den noch nicht ganz reifen Schoten.
„Sie ist abgestorben“, sagte Meyer.
„Aber Dr. Meyer, Sie sind ja richtig traurig“, wunderte sich Anne.
„So viele Jahre habe ich diese Pflanze gesucht“, sagte Meyer. „Nun ist sie an dem Tag verwelkt, an dem ich sie in Ihre Hände geben wollte.“
„Arabidopsis hat einen ganz festen Lebensrhythmus“, sagte Anne. „Das weiß ich von meinen Forschungen in Tübingen. Bei Scherrer musste man seine Diplomarbeit über Tomaten oder über Arabidopsis schreiben. Wir haben intensiv an der kleinen Pflanze geforscht. Angelika Richter und ich, wir hatten ein eigenes Labor. Es war eine schöne Zeit. Ich werde die Pflanze untersuchen und dann werden wir herausfinden, warum sie für mich so eine Bedeutung haben soll.“ Sie sah auf. Dr. Meyer strahlte sie an, wie Sie ihn noch nie hatten lächeln sehen. Ein bisschen verwundert sagte sie: „Jetzt müssen wir aber zum Institut zurück. Professor Scherrer wird uns schon vermissen.“
Anne nahm die Arabidopsis mit in ihr Labor und legte die welken Blätter unter das Mikroskop. Die Zellen in den Blättern waren fast alle abgestorben, nur wenige waren grün geblieben und schienen noch zu leben. Die haben den Befehl des Todes nicht bekommen, dachte Anne und sah vom Mikroskop auf. Sie hatte das Gefühl, nicht allein im Labor zu sein. Es war, als hätte ihr jemand dieses Wort vom Befehl des Todes zugeflüstert. Ja, sie kannte die Apoptose, den Zelltod, den eigenartigen Befehl, der von Zelle zu Zelle weitergegeben wurde und zum Absterben ganzer Gewebe führte.
Nachdenklich schaute sie aus dem Fenster. Im Spiegelbild glaubte sie eine Katze zu sehen. Keine Hauskatze, eher eine menschliche Gestalt mit dem Kopf einer Katze oder einer Löwin. Irritiert schaltete sie das Licht im Labor mit dem Schalter unter dem Tisch an und das seltsame Spiegelbild verschwand.
„Ein eigenartiger Tag“, sagte Anne vor sich hin. „Erst Meyer und seine Gedanken und nun meine Fragen … Arabidopsis wächst innerhalb von neunzig Tagen, kommt zur Fruchtreife und stirbt sehr schnell ab. Warum hat sich Meyer so gewundert? Sollte Arabidopsis ein Todesgen haben, das wie eine innere Uhr den Befehl zum Absterben von Zelle zu Zelle weitergibt? Was wäre, wenn die wenigen verbliebenen Zellen kein Todesgen hatten und deshalb den Befehl nicht verstehen konnten? Würden sie dann weiterleben? Sollten diese Zellen unsterblich sein? Würden sie sich immer weiter vermehren?“
Anne unterbrach das Selbstgespräch. Ich muss mit Professor Scherrer darüber reden, dachte sie und stellte das Mikroskop zur Seite. Dann sah sie sich im Labor um. Wir haben die nötigen Geräte, um die Zellen aus dem Zellverband zu lösen, dachte sie. Das Verfahren kenne ich von Angelika. Sie hat damals Kartoffelzellen isoliert und gereinigt. Das ließe sich auch hier mit den Arabidopsiszellen machen. Dann müsste man versuchen einen Kallus zu ziehen. Auch das war mit der Ausstattung hier möglich. Das gut eingerichtete Labor verfügte über Zentrifugen und Brutschränke mit Beleuchtung.
„Also, an die Arbeit“, sagte Anne laut. „An die Arbeit“, klang es wie ein Echo zurück. Das große schöne Gebäude ist so leer, dachte Anne, dass sogar meine eigene Sprache wie ein Echo klingt.
3. KAPITEL
Auf dem Schreibtisch häuften sich die Papiere. Scherrer nahm einen Brief auf, um ihn gleich wieder zur Seite zu legen. Das Telefon läutete. Scherrer sah den Apparat wie einen persönlichen Feind an, aber dann nahm er langsam ab. „Ja, bitte?“, fragte er in den Hörer.
„Ein Gespräch aus Luxor, Herr Professor. Dr. Nubi!“
„Danke, Anneliese, stellen Sie durch!“
Es rauschte einen Moment im Hörer, dann kam klar und deutlich die dunkle Stimme seines Freundes Nubi. „Edwin, bist du es?“
„Ja“, sagte Scherrer. „Welch eine Überraschung! Ich sitze hier am Schreibtisch und denke über neue Projekte nach. Dein Brief ist angekommen. Danke für deine Unterstützung.“
„Du hast lange nichts mehr von dir hören lassen, Edwin. Ich denke oft an die alten Zeiten und unsere interessanten Gespräche über die Unsterblichkeit. Du bist der Unsterblichkeit nun doch viel näher gekommen.“
„Wie meinst du das?“, fragte Scherrer irritiert.
„Man hört und liest viel von deinen Forschungen in der Gentechnik.“
„Ich hoffe, nur Gutes.“
„Leider nicht nur“, sagte Nubi. „Auch viel Kritisches. In den arabischen Ländern steht man den Experimenten der westlichen Welt sehr abwartend gegenüber. Die neuen Techniken greifen tief in das Geschehen am Lebendigen ein. Das weißt du selbst. Aber ich rufe aus einem anderen Grunde an. Wie du weißt, habe ich erreichen können, dass hier Versuchsfelder angelegt werden dürfen. Hättest du die Möglichkeit, dafür nach Ägypten zu kommen? Deine Anwesenheit würde dem Projekt mehr Bedeutung geben. Aber nicht nur deshalb! Ich würde mich freuen, wenn wir unsere alte Freundschaft auffrischen könnten. Es gibt auch neue sehr interessante Ausgrabungen. Kürzlich wurde das Grab eines Arztes entdeckt. Nein, nicht Imhoteb, ein bisher unbekannter Arzt. Trotzdem sehr interessant! An den Wänden sind viele Zeichnungen der alten Heilpflanzen. Das würde dich doch sicher interessieren. Du bist lange nicht mehr in Ägypten gewesen. Wirst du kommen?“
„Ich denke schon“, sagte Scherrer zögernd.
„Mein Freund“, sagte Nubi. „Ich habe das Gefühl, du könntest einen Urlaub von deinen Mikroskopen und Brutschränken gebrauchen. Hast du den Sarkophag und die Katzenstatue noch?“
Scherrer nickte, als könne sein Freund ihn sehen. „Und all die anderen Kunstschätze auch. Sie stehen in meinem Arbeitszimmer und inspirieren mich. Ich habe unsere Fahrt durch die Wüste nie vergessen.