„So viele Bereiche kennen wir schon“, sagte Anne und betrachtete die Genkarten. „Aber wo versteckt sich das Todesgen?“
„Morgen ist auch noch ein Tag“, meinte Meyer.
Die Tür ging und Anne war allein. Die Sonne sank über der hohen Häuserfront der Kaiserstraße. Anne ergriff eine seltsame Traurigkeit. Wofür arbeite ich eigentlich?, dachte sie. Was suche ich? Ein Todesgen? Oder Erfüllung? Ist nicht alles so sinnlos? Deutlich hob sich die St. Bernhardkirche vom hellen Hintergrund des Himmels ab. Die Gedanken erdrückten Anne. Sie setzte sich ans Fenster und sah einfach hinaus. Überall gingen die Lichter an. Die Straßenbahnen ratterten vorbei, der Lärm des Verkehrs brandete zu ihr hoch. Die Turmuhr von St. Bernhard begann zu schlagen und dann fiel das Geläut der anderen Kirchen ein. Anne blieb am Fenster sitzen und überließ sich ihren Gedanken.
„Sie sind noch an der Arbeit?“, fragte jemand.
Erschrocken drehte sich Anne um. Scherrer stand in der Tür. Er trug noch seinen weißen Labormantel. Sie stand verwirrt auf.
„Frau Neidhardt“, sagte Scherrer. „Ich mache nur meinen abendlichen Kontrollrundgang. Aber da Sie noch hier sind, darf ich sicher neugierig sein. Wie weit sind Sie mit den Forschungen gekommen?“
„Ach, Herr Professor, Sie wissen doch, wie mühsam das ist“, sagte Anne. „Hier habe ich die Genkarten aufgehängt und alles eingetragen, was wir bisher gefunden haben. Es sind Bereiche dabei, die etwas mit einer inneren Uhr zu tun haben. In diesen Abschnitten suche ich das Todesgen.“
Scherrer hüstelte. Er ging an die Karten und sah sich die Eintragungen an. „Das sind die Bereiche, welche die Lebenszeiten bestimmen?“, fragte er.
„Ja“, bestätigte Anne. „Das sind die Gene, welche für die Blatt- und Blütenentwicklung verantwortlich sind. Diese hier sind für die Fruchtbildung zuständig.“ Anne zeigte auf die entsprechenden schwarzen Bereiche in den Genkarten.
„Ich glaube, Sie sind auf der richtigen Spur“, sagte Scherrer. „Hier habe ich einen besonderen Schatz für Sie.“ Seine blauen Augen leuchteten vor Stolz. „Natürlich arbeiten nicht nur wir an Arabidopsis. Amerikanische Institute forschen genauso an dieser Pflanze und sind uns in vielen Bereichen voraus.“ Anne nickte zustimmend. „Heute kam ein Bericht.“ Scherrer zog mehrere Seiten eines Computerausdrucks aus seinem Kittel. „In dieser Arbeit geht es um das Problem, welche Steuerungsmechanismen die Schoten von Raps öffnen. Selbst das ist genetisch festgelegt.“
„Dieser Vorgang ist ganz eng mit dem Absterben der Pflanze verbunden“, sagte Anne aufgeregt. „Wo liegt der genetische Bereich?“
„Geduld, Geduld“, mahnte Scherrer. „Hier steht es: Die vorzeitige Öffnung der Schoten beim Raps führt zu 20 % Ernteverlusten. Zur genetischen Regulation der Fruchtöffnung liegen erste Befunde vor. Es wurden nun zwei Gene identifiziert, die für die Öffnung der Schoten verantwortlich sind. Die Wirkung der Gene ist redundant, eine Mutation in nur einem führt also nicht zu einem veränderten Phänotyp. Solche Redundanzen findet man nicht selten bei Genen, die wichtige Entwicklungsvorgänge kontrollieren; hierdurch wird der richtige Ablauf des Vorgangs besonders gesichert. Wenn beide Gene mutiert sind, unterbleibt die Verholzung der Fruchtblattwandung und es wird kein Trenngewebe ausgebildet, sodass sich die Schote nicht öffnen kann. Durch Ausschaltung der SHP-Gene könnte eine vorzeitige Schotenöffnung vermieden werden. Dies könnte rasch über transgene Pflanzen oder langsamer durch klassische Züchtung erreicht werden.“
Scherrer ließ das Blatt sinken. „Denken Sie an die großen Kulturpflanzen“, sagte er leise, „an Mais, Baumwolle, Raps, Weizen, an die Pflanzen, welche die Menschen ernähren und kleiden.“ Anne sah ihn verwundert an. Scherrer spürte ihren Blick. „Ich dachte an ein Gespräch mit einem Kollegen“, erklärte er. „Man wies mich darauf hin, dass wir an den wichtigen Pflanzen arbeiten sollen.“
„Aber das tun wir doch“, meinte Anne. „Sehen Sie, so weit sind wir auch. In diesen Bereichen sind die MADs-box-Gene. Hier müssen auch die neu identifizierten Gene liegen. Waren auch Genkarten im Internet veröffentlicht?“
„Natürlich“, erklärte Scherrer. „Ich habe Ihnen alles mitgebracht. Schauen Sie es morgen durch. Die gleichen Abzüge liegen bei mir im Labor. Wenn Sie Ergebnisse oder neue Interpretationen haben, kommen Sie zu mir. Die Ausschaltung der Gene erscheint mir interessant und auch die Doppelfunktion gerade bei Entwicklungsgenen. Wir müssen also die jeweiligen Genbereiche auf den homologen Chromosomen suchen. Die Todesgene müssen auf beiden Genen in gleicher Weise vorhanden sein, denn Gene sind redundant. Sie werden nur dann wirksam, wenn sie auf beiden Chromosen vorhanden sind. So kann immer eins wirksam werden. Das ist nicht neu, aber bei diesen Genen ist gerade die Redundanz so entscheidend. Vielleicht könnte auch eine Veränderung an nur einem Gen die Aus- und Anschaltung der Todesgene möglich machen.“
Scherrer musste erneut in ein weißes Taschentuch husten. „Haben Sie einmal mit Dr. Meyer darüber gesprochen? Er scheint mir in diesen Bereichen besonders kompetent zu sein“, fragte er, als er wieder Luft bekam.
„Noch nicht“, erwiderte Anne viel abweisender, als sie es wollte, „aber danke für den Internetausdruck. Das wird uns erheblich weiterbringen.“
Scherrer gab ihr die Blätter und wünschte „Gute Nacht“. Sie ging mit ihm zur Tür und sah ihm nach, wie er durch die langen Gänge des Institutes ging. Unwirklich blau leuchteten rechts und links die Pflanzenkästen.
Anne hielt die langen Ausdrucke in der Hand und dachte nach. Wichtige Entwicklungsvorgänge werden auch doppelt abgesichert? Bestimmt auch die Todesgene.
Scherrer und Meyer hatten recht. Es war genug. Morgen war wieder ein Tag. Morgen gab es vielleicht brauchbare Ergebnisse.
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