Von diesem Sommer bis zum nächsten. Susanne Margarete Rehe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susanne Margarete Rehe
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783960081746
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das ja auch zu den Dingen, die ich nicht verstehe … zu wörtlich, zu ernst genommen … eindeutiger Verstoß gegen die Spielregeln!

       Es gibt keine Ritter, keine hingebungsvollen Helden, einfach nur: Er sucht Sie!

       Ist das so schwer zu kapieren, Gerdi?

       Ach nein, danke! Nicht noch mehr Halbheiten!

      Sie legte den Anzeigenteil zusammen und versuchte, das Zeitungschaos halbwegs zu ordnen. Es war Sonntagmorgen, Zeit noch ein wenig zu dösen. Vom Stall her drang durch das gekippte Fenster gedämpft der tiefe kehlige Ruf einer Kuh, die vor kurzem als letzte aus der Mutterkuhherde gekalbt hatte und jetzt nach ihrem Nachwuchs rief.

      Ausgestreckt auf ihrem Bett fixierte Gerdi die Maserung der Holzdecke über sich. Schläfrig schlüpften ihre Gedanken hinauf zu den alten Balken und Bohlen. Sie verloren sich in den Spalten, verschwanden in den Rissen.

       Auf wie viele Bewohner hatte diese alte Decke eigentlich bereits herabgesehen? Wie viele Leben waren unter ihr geboren und gelebt worden? Wie viel Freude, wie viel Leid und Hoffnung sind im Blick der Augen zu ihr hinaufgewandert?

       Vielleicht hatte die Last dieser verflossenen Geheimnisse sie mittlerweile müde gemacht, da sich die Decke zur Mitte des Zimmers hin merklich senkte. Vielleicht neigte sie sich aber auch den Menschen zu, tröstend und erstaunt über deren große und kleine Dummheiten, ihre Liebesnächte und verzweifelten Tränen. Und wäre es ihr möglich gewesen, sie hätte sicher ihren schweren, hölzernen Kopf geschüttelt über die Unrast, mit der die Menschen unter ihr lebten. Sie verstand die Menschen nicht. In ihrer jeweils eigenen Art waren sie einander zu fern, obwohl nur ein wenig Luft sie trennte.

       Es war aber ein leises Ahnen in ihr, – tief drinnen zwischen ihren Holzfasern, dort wo die Langsamkeit der Zeit manchmal noch ein kurzes, trockenes Knacken hervorbrachte –, dass der Menschen Unruhe und Drang nach Veränderung der kurzen Verweildauer entspringen mochten, die ihnen auf dieser Erde gegeben war.

       Sie hingegen hatte schon ein ganzes langes Leben gelebt, bevor sie in dieses Haus kam und bevor sie hier zu ihrer neuen Bestimmung fand.

       Jetzt war auch das Haus schon alt geworden, sehr alt und noch immer war ihr Ende nicht in Sicht.

       Aber ganz allmählich nagte die Zeit auch an ihr. Sie wurde noch ein bisschen dunkler, zerfalteter und geriet ein wenig aus den Fugen.

       Das Alter formte sie – zärtlich, aber bestimmt.

      „Gerdi!?“

      Langsam drängte sich ihr Name ins dämmernde Bewusstsein.

      „Gerdi, bisch du in dei’m Zimmer?“

      Sie war eingeschlafen gewesen.

      Paul stand unten im Hof und rief nach ihr. Er wollte fahren.

      Gerdi sprang auf, lief noch etwas benommen vom Schlaf zum Fenster und rief hinunter:

      „Ja, bin ich. Warte kurz, ich komme gleich!“

      Sie rieb sich einen Rest Schläfrigkeit aus den Augen und zog den dicken grauen Pullover über. Es war ihr Arbeitspullover. Der hatte sie nun schon viele Jahre begleitet. Auf jedem Hof, auf jedem Acker war er dabei gewesen. Gute Wolle, fest gesponnen und doppelt verstrickt, sodass kein Wind durchpfiff, auch wenn er ihr oftmals heftig ins Gesicht blies.

      Heute lockte draußen eine verführerische Sonne von einem blau weißen Himmel, aber es war noch recht kühl. Ein frischer Ostwind trieb die letzten Winterfetzen vor sich her, fegte sie spielend übers Land und hielt hier und da vereinzelte Schneewehen lebendig, die sich in schattigen Gräben festgesetzt hatten.

      Paul saß bereits im Auto und wartete.

      Gerdi zog die Haustüre hinter sich zu, sprang mit einem Satz die drei Stufen hinunter, lief zum Wagen und setzte sich neben Paul.

      Die beiden fuhren entlang der Felder, die nahe am Hof lagen und weiter zu den entfernter gelegenen Äckern. Immer wieder hielt Paul an, sie stiegen aus, zogen junge Getreidepflanzen aus dem Boden, begutachteten deren Bestockung und prüften die Bodengare und Durchwurzelung.

      Das Wintergetreide stand bereits recht ordentlich da, ein sattes Grün wechselte sich ab mit dem Braun fetter Erde.

      Die schüchterne Wärme der Sonne an diesem frühen Apriltag zauberte einen milchig dunstigen Schleier über die Weite der Ebene, auf der die Felder in weitem Umkreis verteilt lagen und überzog die Landschaft mit sanften Pastelltönen. Altrosa, Zartgrün, Blassblau und Schlüsselblumengelb mischten sich zu einem perfekten, großartigen Bild. Aus der Ferne schimmerten silbrig hell die Weiden eines Auenwaldes herüber, den Horizont säumten entfernte Hügelketten.

      Beim Anblick der Riedlandschaft, die reizvoll in ihrer Offenheit und Weite vor ihr lag, machte Gerdis Seele einen Sprung und flog hinter einer kleinen Schar früh zurückgekehrter Stare her, die mit ihrem glänzenden Gefieder durch das klare, kalte Blau segelten.

      Mit den ersten Zugvögeln war auch ein wenig mehr Leichtigkeit in Gerdis Welt zurückgekehrt. Die schweigende Starre des langen Winters hatte dem lebendigen Treiben und Werben der gefiederten Gesellen Platz gemacht. Ihr aufgeregtes Gezwitscher durchzog die hellblaue Vorfrühlingsluft gleich den bunten Bändern, die bald wieder an den Maibäumen in den Dörfern flattern würden. Das geschäftige Hüpfen und Zirpen in jedem Busch weckte ihre eigene Lust auf Bewegung und die Freude darauf, wieder im Garten und auf dem Feld zu arbeiten.

       Hey, da seid ihr ja wieder, ihr kleinen Vaterlandsverräter!

       Die härteste Zeit im Jahr habt ihr uns hier selbst überlassen. Keine sehr feine Art, wenn auch verständlich.

       Aber wo kommen wir denn hin, wenn jeder gleich die Flucht ergreift?

      Sie atmete tief, als könne die Luft nicht nur ihre Lungen, sondern auch ihr Herz mit Zuversicht füllen.

      In Momenten wie diesem glaubte sie, dass ihre Entscheidung, hier geblieben zu sein, richtig war. Sie schaute sich nach Paul um, drehte bei und setzte zur Landung an, mitten hinein in die Wirklichkeit und in die dicke Qualmwolke seiner Havanna.

      Paul, ein großer Mann mit einem charmeurhaften Lächeln unter dem Dreitagebart, ließ gerade eine Handvoll feinkrümeliger Erde durch seine langen Finger rieseln und sah nachdenklich in den Himmel, nach Westen – dahin, wo für gewöhnlich das Wetter herkam.

      „A baar trock’ne Dag no’ ond mer koa zum Hacken raus fahr’n, oder? Was moinsch’d?“, fragte er Gerdi.

      „Mir soll’s recht sein. Besser, wir legen los, sobald es geht. Wer weiß, wie lang es noch gut bleibt.“

      „Früh dran sin’ mer heuer. So war’s scho’ lang net mehr. ’s koannt’ sei, dass es net ganz schlecht wird …“

      „Na ja, wir schauen mal, ob das Wetter mitspielt. Wegen mir kann es losgehen.“

      Ja, das Wetter!

      Es hatte sie während der gesamten Ernte im vergangenen Herbst nicht im Stich gelassen.

      Ein langer goldener Herbst war es gewesen. Kaum ein Regentag hatte sich in die Erntezeit geschoben. Sie hatten das Wurzelgemüse und die Zwiebeln trocken und sauber ins Lager gebracht. Ein glücklicher Umstand war es gewesen, der während der Winterarbeiten im Gemüselager ihre Arbeit enorm erleichterte.

      Noch sehr gut erinnerte sich Gerdi an ihr mulmiges Gefühl beim ersten Anblick der riesigen Erntemengen, die mit jeder weiteren Hängerladung Gemüse zu meterhohen langen Halden in der Lagerhalle aufgeschüttet wurden.

      Sie konnte sich damals nur schwer vorstellen, dass diese gewaltigen Mengen Gemüse irgendwann einmal gewaschen, sortiert, abgepackt und verkauft sein würden. Nach vielen langen und kalten Wintertagen am Fließband und an der Waschanlage wusste sie es besser.

      Die letzte Erntezeit war brechend voll gewesen mit Arbeit. Trotz allem aber waren es für