Erstflug. Matthias Falke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Falke
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Научная фантастика
Год издания: 0
isbn: 9783957770912
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sah es, wie er es noch nie gesehen hatte. Als einer, der weggeht. Sechs Jahre seines Lebens hatte er hier verbracht. Und es blieb ihm noch genügend Zeit. Er würde noch einmal herkommen können. Aber er wusste nicht wozu. Jones und die Kollegen, die Abende bei Trixi an der Bar. Es war nicht so, dass er das nicht vermissen würde. Aber er würde es verkraften. Es war zu verschmerzen. Wirklich zuhause gewesen war er hier eigentlich nie.

      Er drehte sich um. Die schmale Asphaltbahn, die sich wie ein Feldweg in die wogende Weite der erntereifen Felder hinausschlängelte. In der Ferne waren automatische Mähdrescher im Einsatz. Sie zogen Wolken von Spreu hinter sich her wie riesige Schneepflüge. Ihre KIs waren primitiv. Sie hatten sich nach Feierabend einmal damit belustigt, sich die Programmierung anzusehen. Einer der Farmer hatte sie darum gebeten. Aber das Zeug war unsagbar lächerlich. Mit KI, wie sie sie verstanden, hatte es im Grunde nichts zu tun. Es waren Roboter, die selbständig ein ausgewiesenes Feld abernteten und dann mit ihrer Fracht zum Silo fuhren. Ein Dreijähriger hätte die Routinen dafür schreiben können. Einer von Laertes’ Kollegen passte auf die Schnelle ein paar seiner Standards ein und schickte das Ganze dem Besitzer zurück, der sich überschwänglich bedankte. Ein paar Tage später fuhr er vor und brachte einen Fresskorb für die ganze Arbeitsgruppe.

      Anekdoten.

      Er wusste, dass er viel Zeit haben würde, sie zu rekapitulieren. Ob jemand da sein würde, dem er sie erzählen konnte? Aber für wen würde das interessant sein?

      Der junge Kerl mit dem Scooter wartete geduldig. Er wurde nach Einsätzen bezahlt. Solange kein weiterer Auftrag in der Warteschleife hing, konnte es ihm egal sein, ob er hier herumlungerte oder am anderen Ende seiner Strecke.

      Laertes fiel auf, dass das Gebirge näher gerückt war. Es war klar. Jeder Grat, jeder Felszacken, jeder Geröllbrocken zeichnete sich ab, als sei das Firmengelände über Nacht etliche Kilometer nach Süden gewandert. Er wusste, dass es am Föhn lag – der wiederum für einen nicht unerheblichen Teil seiner Übelkeit verantwortlich war. Er schätzte das Verhältnis Tequila – Wetter auf etwa 60 zu 40.

      Ein letzter Blick über die Fassade. Das große Schild: ARTIFICIAL INTELLIGENCE RESEARCH CENTER. Es klang großspurig. Aber wenn man es recht bedachte, war es sogar eine Untertreibung. Sie hatten nicht Intelligenz erforscht, sondern Bewusstsein erschaffen. Zumindest den aufgeweckteren seiner Kollegen war von einem bestimmten Punkt an klar gewesen, dass sie an einer Schwelle standen. Sie erschufen ein Wesen, das nicht nur menschliche Funktionen simulierte, eine Turing-Maschine, sondern das tatsächlich über ein Bewusstsein seiner selbst verfügte. Er hatte das in einem kleinen Artikel in einem Fachblatt angezeigt, noch ehe die letzten Hürden genommen waren. Sie waren es übrigens auch jetzt noch nicht. Es würde noch Jahre dauern. Es würde immer weitergehen. Aber der Artikel hatte sich seinen Weg durch die Institutionen gebahnt. Jetzt hatte er sich in eine Eintrittskarte verwandelt. In ein Flugticket. In ein historisches Dokument.

      Er riss sich los und stieg in den Scooter.

      »Wo soll’s denn hingehen?« Der Fahrer schnippte seine Qatlette auf den Vorplatz, wo sie qualmend liegen blieb. Wenn sie die Auffahrt freigegeben hatten, würde ein dackelgroßer Bot erscheinen und den Stummel verschwinden lassen. Auch so ein Lieblingsspielzeug der Geschäftsführung, die bis heute nicht begriffen zu haben schien, dass sie keine Bots programmierten, sondern an etwas arbeiteten, das eine völlig andere Qualität hatte!

      »Ins Dorf«, sagte er nur. »Dort komme ich allein zurecht.«

      »Ich kann sie auch in die Stadt fahren«, sagte der Junge. »Oder gleich zum Flughafen. Wie es aussieht, sind Sie heute meine einzige Fuhre.«

      »Danke.« Laertes schmunzelte ob der Bezeichnung. »Erst einmal ins Dorf.«

      »Sie haben es nicht eilig.« Der Scooter erwachte mit dem charakteristischen Geräusch anlaufender Feldgeneratoren zum Leben.

      »Ich habe alle Zeit der Welt.« Sandte er nicht genügend Signale aus, die verkündeten, dass er nicht an Konversation interessiert war? KIRA, die künstliche Person, die er erschaffen hatte und mit der er seit mehreren Jahren arbeitete, würde es verstehen.

      Der junge Mann ließ die Turbine aufheulen und jagte sie die einspurige unmarkierte Straße entlang, die sie bei diesem Tempo in wenigen Minuten zur nächsten kleinen Ortschaft führen würde.

      Laertes hatte es wirklich nicht eilig. Am liebsten wäre er zu Fuß gegangen. Immer auf das Dorf mit seinen Silos und dem Kirchturm zu, während die Berge darüber immer klarer und höher wurden. Aber es hätte keinen guten Eindruck gemacht. Er hatte Anspruch auf einen Chauffeur.

      »Hab schon gehört«, plauderte der Fahrer.

      »Was denn?«

      »Sie haben das große Los gezogen!« Er zwinkerte ihm zu, während er lässig mit einer Hand steuerte. Laertes riskierte einen Blick auf das Display: der Scooter war selbstfahrtauglich. Er hätte auch ohne den Schwätzer zum Dorf gefunden. Das hatte etwas mit dem Protokoll zu tun. Und so hatte man wieder einen Arbeitsplatz geschaffen. Die Region war strukturschwach. Von AIRC abgesehen, gab es hier nichts als Rinderzucht und Getreide. Und die KI-Fabrik rekrutierte ihren Nachwuchs nicht gerade aus den Farmern der Umgebung.

      »Ist es das?«, fragte er nachdenklich.

      »Ich denke schon.« Der Junge machte aus seiner Begeisterung kein Hehl. Dann schoss er ihm einen verschwörerischen Blick zu. »Oder haben Sie Schiss?«

      »Kein intelligenter Mensch würde leugnen, dass das Ganze mit einem mulmigen Gefühl verbunden ist.«

      Laertes ließ das wirken. Er konnte zusehen, wie der Fahrer den Satz im Kopf ein paar Mal vor und zurückspulen musste.

      »Es ist natürlich schon ein Schritt«, sagte er dann. »Man muss alles zurücklassen, eh?«

      »So ist es.« Laertes tat noch immer der Schädel weh. »Aber bei dem Meisten ist das ja auch nicht schade, oder?«

      Er legte das Handgelenk auf das Display, das in seiner linken Armlehne sichtbar wurde, und quittierte die Fahrt. Der Betrag würde von der Firma beglichen. Diese eine Dienstleistung hatte er noch gut. Er hätte auch gleich in die City fahren und sich bei einem der pompösen Hotels am Flughafen absetzen lassen können. Aber er wollte die Zwischenstation noch. Er brauchte die Etappe. Eine Sache war noch zu erledigen.

      Als er ausstieg, war er jedenfalls endgültig ein freier Mann. Der letzte Kontakt, der ihn noch mit der Firma verband, salutierte eifrig, wendete auf dem kleinen Vorplatz des Gasthofs und bretterte mit jaulenden Aggregaten davon.

      Laertes blieb allein zurück. Die kleine Reisetasche in der Hand – andere Leute nahmen mehr Gepäck mit, wenn sie in die Sauna gingen oder an den Strand. Er sah sich um. Der Gasthof war im Tiroler Landhausstil erbaut. Breite Balkone, vor denen Kästen mit Geranien und Pelargonien hingen. Holzschnitzereien. An einer Wand Lüftlmalerei. Er war oft hier durchgekommen, auf dem Weg zum Flughafen oder zurück. Meist nachts oder am frühen Morgen. Aber er war nie ausgestiegen und hatte sich das Gebäude angesehen. Das holte er jetzt nach.

      Ein einziges Mal war er im Ort selbst gewesen. Jim Gallagher, zwei Gehaltsklassen über Curdy Jones, hatte die ganze Arbeitsgruppe zu sich nach Hause eingeladen. Er wohnte in einem protzigen Anwesen am Rand des Dorfes. Riesiger Garten mit Hochstammrosen und Obstbäumen. Ein Trampolin und ein eigener Tennisplatz für die Kinder. Natürlich ein Swimmigpool. Die Party diente offiziell dem gegenseitigen Kennenlernen. Ihr eigentlicher Zweck war es, den kleinen Sachbearbeitern und 0815-Programmierern vorzuführen, was man im Management verdienen konnte, auch wenn man von der Materie, die man dabei verwaltete, nicht den geringsten Schimmer hatte. Sie hatten das bald durchschaut und sich entsprechend aufgeführt, vor allem nach dem zweiten, dritten Bier. Einer hatte die Kinder des Hauses so oft und so erbarmungslos im Tischtennis geschlagen, dass sie zu heulen anfingen. Ein anderer den Hund in den Pool geschmissen. Jones hatte der puertoricanischen Haushälterin unter den Rock gefasst, die ihm daraufhin eine knallte, der ihr wiederum seinen Champagner ins Gesicht schüttete. Einer hatte in die Blumenrabatte gekotzt. Es war das letzte Fest dieser Art. Die Führung gab mit sofortiger Wirkung sämtliche Versuche auf, mit der restlichen Belegschaft zu fraternisieren.

      Anekdoten.