Die Zwölf fuhren in Dreiergruppen in den Westen, nach Niedersachsen, Hessen, ins Rheinland und nach Bayern, überfielen in kurzen Abständen Einrichtungen mit hohen Tageseinnahmen, wie Tankstellen, McDonalds-Restaurants und Supermärkte, und verschwanden wieder. Die Polizeibehörden waren ratlos. Nach vier Wochen intensiver Überfälle hörte der Spuk so schnell auf, wie er begonnen hatte. Dort, wo die vier Gruppen bei ihren Taten gefilmt wurden, sah man Männer mit breiten Strohhüten auf ihren Häuptern. Von den Krempen der Kopfbedeckungen hingen Imker-Netze, welche jeglichen Blick auf die Gesichter der Täter unmöglich machten. Die bundesweit agierende »SOKO Honigtopf« sprach von lange vorbereiteten, generalstabsmäßig ausgeführten Überfällen. Trotz intensiver Bemühungen gab es keinerlei Hinweise auf die Täter. Besonders irritierend war die Tatsache, dass die Überfälle nahezu zeitgleich in vier verschiedenen Bundesländern abliefen.
Thomas Keller und seine Genossen standen kurz vor ihrem Ziel. Sie hatten genügend Anfangskapital. Nun hieß es, die richtigen Zellenmitglieder anzuheuern: Sympathisch mussten sie aussehen, vertrauenswürdig und unauffällig. Sie durften noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sein. Ausländer sollten ihnen verhasst sein. Besonnenheit, Mut und Entscheidungsstärke waren weitere Eigenschaften, die sie besitzen sollten, gepaart mit Skrupellosigkeit und Gewaltbereitschaft. Der Plan der zwölf Gründungsmitglieder der NEL war simpel: Schnell zuschlagen, einen hohen Personen- und Sachschaden hinterlassen und unerkannt verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen. Die zwölf planten einen Teppich der Gewalt über in Deutschland lebende Ausländer auszurollen. Ein Meer aus Angst und Schrecken wollten sie verbreiten, um den Migranten, Asylanten und der ganzen Türkenbande das Leben in Deutschland grundlegend zu vermiesen. Jeder Asylbewerber sollte sich drei Mal überlegen, ob er nach Deutschland kommen wollte. Das Ausländerpack, welches bereits in Deutschland lebte, sollte sich nicht lange überlegen müssen, das Land wieder zu verlassen. Dieses Ziel zu erreichen, schnell zu erreichen, ging nur mit extremer Gewaltanwendung. Nur das verstanden diese Bimbos – eine klare Sprache.
Ihren zentralen Treffpunkt mieteten die Gründungsmitglieder der NEL in Leipzig an, mitten im Zentrum, wo es vor Touristen nur so wimmelt. Thomas Keller hatte die Idee. »Das Barfußgässchen ist die Fressmeile Leipzigs«, argumentierte er. »Nahezu ganzjährig halten sich Touristen in den engen Gassen und auf dem Platz vor dem Alten Rathaus auf. Da fallen wir in dem Gewimmel gar nicht auf, wenn wir unsere vierwöchigen Treffen abhalten.« Gesagt, getan. Dort, wo ein alter, dunkler und schäbiger Treppenaufgang zum Central Kabarett hochführt, mietete Thomas Keller im vierten Stockwerk eine Dreizimmerwohnung mit Küche, Bad und einem großen Wohnzimmer. Sogar einen offenen Kamin hatte die Wohnung. Von hier aus, so hatten sie sich vorgenommen, wollten sie Deutschland wieder lebenswerter machen, frei von diesem Ausländerpack, das so nützlich war wie ein Kropf am Hals. Sie hatten sich fest vorgenommen, die Arbeit der NSU erfolgreich fortzusetzen. Nein, nicht nur erfolgreich – erfolgreicher. Bald würde es viele tote Ausländer in Deutschland geben. Skrupel ließen sie nicht gelten. Sie sahen ihr zukünftiges Handeln als eine Berufung an – eine Berufung Deutschland zu retten, bevor es endgültig zu spät war. Wie hatte auch der NSU gesagt? »Taten statt Worte« – nur dieses Mal besser organisiert und geplant. Nichts sollte dem Zufall überlassen bleiben. Niemand in Deutschland sollte mit der Abkürzung NEL je konfrontiert werden. Es gab sie, und es gab sie nicht. Nur zwölf Menschen konnten mit dieser Abkürzung etwas anfangen.
2
Der 25. August 2013, ein Sonntag, war ein Scheißtag – zumindest wettermäßig. Seit den frühen Morgenstunden zogen tiefhängende Regenwolken von Westen her auf die kleine mittelfränkische Gemeinde Röttenbach zu. Es sah nicht so aus, als hätten die wärmenden Strahlen der Augustsonne an diesem Tag auch nur die geringste Chance, die dichte Wolkendecke zu durchdringen. Als der Himmel einmal kurz heller wurde – oder war das nur pure Einbildung? – machte innerhalb von Minuten eine neue, dunkle Wolkenfront alle Hoffnungen wieder zunichte. Seit zwei Stunden fielen feine, aber dichte Regentropfen, wie an einer dünnen Schnur gezogen, ununterbrochen auf das Dorf.
Mitten auf dem Parkplatz vor dem Röttenbacher Rathaus stand einsam und verlassen ein moderner Reisebus. Der Motor war abgeschaltet, die Eingangstüren geöffnet. Hinter den beschlagenen Scheiben sah man von außen ab und an rege, aber undeutliche Bewegungen. Die riesige Asphaltfläche um den Bus glänzte feucht, und in den Unebenheiten der Teerdecke hatten sich unzählige Pfützen gebildet. Zwei schirmbewehrte Gestalten humpelten gestikulierend auf den Reisebus zu. »Wer hätt etz denkt, dass es heut, am fümfazwanzigstn August, so schüttn tät? Vor aner Wochn wars nu heiß, und ich hab gschwitzt wie eine Sau.« Kunigunde Holzmann schimpfte wie ein Rohrspatz und machte ihrem Ärger lautstark Luft.
»Des kannst halt vorher a net wissen, wie des Wetter wird«, konstatierte ihre Freundin Margarethe Bauer. »Kumm, schick mer uns, ich glaab, wir sind eh die Letztn. Die wartn alle scho auf uns.«
»Des is mir doch scheißegal. Sollns doch ohne uns abfahrn. Hab sowieso kann Bock mehr auf des bleede Mjusical«, brummte Kunigunde Holzmann vor sich hin.
»Na ihr zwaa, ihr seid doch immer die Letztn!«, ertönte eine Stimme aus dem Innern des Busses.
»Sei bloß ruhig«, belferte die Kunni zurück, »sonst steig ich gar net erst ei. Dann könnt ihr alla fahrn. Retta, alte Zuchtl, etz schau halt scho, dassd endlich nei kummst, in den Scheißbus. Ich werd doch da außen nass wie ein Pudl.«
Die Röttenbacher Senioren hatten wirklich verdammtes Pech. Ihr lange geplanter Kulturausflug fiel regelrecht ins Wasser. Um halb zwei starteten sie, knapp fünfzig an der Zahl, vor dem Rathaus in Röttenbach.
Fünfundvierzig Minuten später hatte der Reisebus auf dem Frankenschnellweg Bamberg längst hinter sich gelassen, und der Schnürlregen fiel immer noch auf die in feinem Dunst liegende Landschaft.
»Ich mein, hier regnets nu mehr als bei uns daham”, stellte Kunigunde Holzmann fest und sah ihre Freundin nicht gerade freudig erregt an. »Wo fahrn wir eigentlich hin?«
»Na, zur Waldbühne Heldritt, in die Näh von Coburg«, antwortete Retta Bauer unfreundlich. Auch ihr schlug das schlechte Wetter ordentlich aufs Gemüt.
»Werd scho su a Kaff sei«, mutmaßte die Kunni. »Heldtritt? Habbi noch nie ghört.«
Kunigunde Holzmann und Margarethe Bauer kennen sich seit dem Sandkastenalter. Ihre Ehemänner hatte der Herrgott schon vor Jahren zu sich geholt. Im August 2012 feierten sie gemeinsam in der Gaststätte Fuchs ihre achtzigsten Geburtstage, und im Dorf, aus dem sie nie herausgekommen waren, kennt man sie schlichthin als Kunni und Retta. Gesundheitlich sind die beiden noch gut drauf, wenn auch Kunni bei einem Kampfgewicht um die fünfundachtzig Kilogramm Schwierigkeiten beim Laufen hat und immer öfter auf ihren Rollator angewiesen ist. Retta ist das Gegenteil. Rank und schlank, mit der Figur einer Jugendlichen, läuft sie wie ein Porsche frisch aus der Fabrik. Nur ihre Gelenke und die Gicht machen ihr ab und an zu schaffen. Ihre Haushalte führen die zwei noch selbst. Kochen und Essen sind eine ihrer Leidenschaften. Während Kunni allein lebt, hat Retta das Obergeschoss ihres Häuschens an einen zugezogenen Rentner aus dem Sauerland vermietet. Der fühlt sich seit Jahren in Mittelfranken recht wohl, was auch an seiner Vermieterin liegt. Seit Jahren versucht Dirk Loos, zwischenzeitlich auch schon fünfundsiebzig, an seine heimliche Herzensdame heranzukommen. Bisher nur mit mäßigem Erfolg. Neben der guten fränkischen Küche haben Kunni und Retta ein zweites Hobby, dem sie leidenschaftlich nachgehen: die Kriminalistik. Sie haben schon des Öfteren komplizierte Kriminalfälle gelöst und dabei die zuständigen ermittelnden Beamten der Kripo Erlangen verdammt schlecht aussehen lassen. Das Ganze birgt insofern noch eine zusätzliche Brisanz in sich, als Kunnis Neffe, Gerald Fuchs, der verantwortliche Kommissar der Mordkommission in Erlangen ist. Die Vorbilder der beiden Damen sind die Münchner Tatort-Kommissare Leitmayr und Batic, deren Sendungen sie niemals verpassen, wobei die Kunni mehr von Leitmayr hält als von Batic. Ihre Freundin ist da gegenteiliger Meinung, und manches Mal geraten die beiden darüber auch in Streit, was aber ihrer langjährigen Freundschaft keinen Abbruch tut. Dass Kunnis einziger lebender Verwandter, Gerald Fuchs, ebenfalls in Röttenbach wohnt, hat mit