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Die Röttenbacher Kirchweih gehörte bereits der Vergangenheit an, und der September neigte sich seinem Ende zu. Die Tage waren merklich kühler geworden, und in den frühen Morgenstunden hingen die ersten herbstlichen Morgennebel über den feuchten Wiesen und den zahlreichen Karpfenweihern. Auch die milde Sonne war zwischenzeitlich immer öfter von tief segelnden Wolken verdeckt und trug einen nahezu aussichtslosen Kampf aus, um die Nebelschwaden bis zur Mittagszeit aufzulösen. Die Röttenbacher Störche hatten ihr Nest auf dem Brauhaus der Brauerei Sauer vor Kurzem verlassen und sich auf ihren weiten Weg in Richtung Süden begeben. CDU/CSU hatten die Bundestagswahlen mit deutlichem Abstand gewonnen, und die SPD und die Grünen leckten ihre Wunden. Die Freien Demokraten waren in ein Loch der Bedeutungslosigkeit abgestürzt.
Das alles hatte für Bernd Auerbach keine wirkliche Bedeutung. Keine der genannten politischen Parteien vertrat seine Interessen. Er und seine Lebenspartnerin hatten sich in Röttenbach zwischenzeitlich einigermaßen zurechtgefunden. Einigermaßen, denn mit den Franken hatten die beiden noch so ihre Probleme. Nicht mit den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die waren im Grundsatz kein Thema, denn die einheimischen Aborigines sind von Grund auf gutmütige Menschen. Sie hatten ja nicht die geringste Ahnung, warum die beiden Sachsen ins Fränkische gezogen waren und was sie vorhatten. Der mittelfränkische Dialekt war es, der den beiden Neubürgern aus Sachsen noch Schwierigkeiten bereitete. Der Ausspruch »Tut euch na net o, des wird schon noch wern« klang für die zwei Ostdeutschen wie Jodeln auf Fränkisch. Auf ihre Frage, wie sie denn zur nächsten Gaststätte gelangen könnten, erhielten sie zur Antwort: »Da gehst die Straß gar nauf, auf die ander Seitn nieber, a Stückerla grad aus – net weit – dann bist scho da.« Dennoch, die Franken waren okay, nette Leute, aber auch unheimlich neugierig. »Gell, ihr seid net vo da? Wo kommen wir denn her?« Mit dem »wir« konnten die beiden Sachsen schon rein gar nichts anfangen. »Was macht ihr denn bei uns, in Franken?« Immer wieder wurden sie während der einheimischen Kirchweih im Festzelt mit solchen Fragen konfrontiert. »So, aus Saxn seid ihr! Gibts dort a Karpfn und Schäuferle? Net? Was esstn dann ihr?« Ständig sprachen die Einheimischen über Karpfen, das Aischgründer Karpfenland oder der Einfachheit halber einfach nur von ihrem Karpfenland. Bernd Auerbach hatte keine Ahnung und konnte nicht mitreden, bis er bei der NORMA einen der Ur-Röttenbacher traf, den Sieberts Schorsch, der ihn ansprach. »Wohnst du a in Röttenbach? Dich habbi hier bei uns goar nunni gsehn«, wollte der Schorsch wissen. »So, aus Saxn kommst. Kennst du dich denn bei uns im Karpfnland scho aus? Net, gell?« Der Sieberts Schorsch schien alle Zeit der Welt zu haben sowie ein großes Mitteilungsbedürfnis und folgte ihm bis hinaus auf den Parkplatz, wo sein Fahrrad stand. »Unser Karpfnland is ka einheitlichs Gebilde«, setzte der Schorsch seine Rede draußen fort. »Wir liegn scho a weng abseits vom Schuss, und des Auffälligste in unserer Gegend sen die vielen Weiherketten, in dene unser Aischgründer Spiegelkarpfn heranwächst. Mehr als siebentausend Karpfenweiher gibts bei uns, mit aner Flächn vo mehr als dreitausend Hektar. Drei Joahr braucht su a Fisch, bis er aufn Teller kummt. Scho die Mönch im Mittelalter ham den Karpfn als Fastenspeise zücht. Du musst wissen, den Spiegelkarpfen gibts nur in den Monaten, die ein R in ihrm Noma tragn, vo September bis April, und unser Karpfnland liegt in einem Dreieck, des die Städte Nermberch, Bamberch und Neustadt an der Aisch verbindet. Drum redn wir a hauptsächlich vom Aischgrund. Bei uns gibts Störch, Mühln und a Haufn Burgn und Felsenkeller. Soll ich dir auch die Gschicht vo unsere Felsnkeller derzähln? Do kriegst du eine hervorragende Brotzeit und ein Spitznbier.«
»Nein, danke«, antwortete Bernd Auerbach höflich. »Vielleicht das nächste Mal.« Er musste grinsen, wenn er über die Einheimischen nachdachte. Den Fußweg zum nächsten Bierkeller in Neuhaus hatten er und seine Freundin bereits Anfang September längst für sich entdeckt, und sie genossen die kurze Wanderung durch den Wald, um sich auf dem Felsenkeller der Familie Würth niederzulassen und das schmackhafte Kellerbier sowie eine deftige Brotzeit zu genießen. Sie hatten noch nie von einem Bratwurstsalat oder Bratwurst-Schaschlick gehört. Auch der knusprige Krustenbraten war ihnen fremd gewesen. Durch Zufall schlenderten sie in Röttenbach die Schulstraße dorfauswärts entlang und kamen bald zum Neubaugebiet Am Sonnenhang. Riesige Erdbewegungen waren dort zu beobachten. Baumaschinen, Kräne und Bagger waren im Einsatz, als ihnen ein Jogger entgegenkam. »Entschuldigung«, sprach ihn Anna Wollschläger an, »können Sie uns sagen, wohin dieser Weg führt?« Dabei deutete sie in Richtung Westen, raus aus dem Dorf.
»Wenn Sie hier hochgehen«, antwortete der Freizeitsportler und schnaufte dabei wie ein mittelalterlicher Postgaul, »kommen Sie in den Wald. Laufen Sie immer den Hauptweg entlang, bis zu einer Weggabelung. An einem Baumstamm finden Sie ein Hinweisschild, das Ihnen den Weg zum Neuhauser Bierkeller zeigt, ungefähr drei Kilometer von hier.« Er sah auf seine Armbanduhr. »In einer halben Stunde wird geöffnet.« Dann drehte er sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, um und lief wieder davon.
»Dankeschön«, rief ihm Anna Wollschläger nach. Die beiden Sachsen nahmen ihren Weg wieder auf und durchliefen, kurz nachdem die Schulstraße in einen breiten Feldweg übergegangen war, einen Hohlweg, dessen Ränder mit dichten Schlehenhecken und wilden Kirschbäumen bewachsen waren. Immer weiter ging es bergan. Links und rechts des Weges standen nun Getreidefelder. Bald würden die mächtigen Mähdrescher mit ihren riesigen, messerbewehrten Mäulern kommen und sich die satt gewachsenen Ähren einverleiben. Doch noch drang das kräftige Blau der Kornblumen und das tiefe Rot des Klatschmohns aus den Rändern der Getreidefelder. Als die beiden die Anhöhe erklommen hatten, kurz vor dem Waldrand, blieben sie stehen. Rechter Hand erschlossen sich ihnen weite Blicke bis nach Erlangen und Nürnberg. Geradeaus und links konnten sie bis in die hügelige Landschaft der Fränkischen Schweiz sehen. »Schön hier«, entfuhr es Anna Wollschläger. Fasziniert genossen sie weitere fünf Minuten die Schönheit der Landschaft und tauchten bald darauf in den kühlenden Schatten des Waldes ein. Mühelos fanden sie das beschriebene Hinweisschild und ließen sich eine halbe Stunde später auf einer der schattigen Bänke des Bierkellers nieder. »Das nenne ich Lebensqualität«, urteilte Bernd Auerbach, als er den ersten, tiefen Schluck des süffigen und kühlen Kellerbieres zu sich genommen hatte. »Die Franken leben im Paradies«, meinte er. Drei Mal besuchten die beiden Sachsen den Neuhauser Bierkeller in kurzen Abständen.
*
Bernd Auerbach fuhr in einem alten VW Golf, den er in Fürth auf einem öffentlichen Parkplatz aufgebrochen und kurzgeschlossen hatte, das Stadtgebiet von Nürnberg an. Bereits Tage zuvor hatte er sich vergewissert, dass der Parkplatz nicht kameraüberwacht war. Der schwere Rucksack, den er getragen hatte, lag nun auf der Rücksitzbank. Die Kapuze seines Anoraks hatte er vom Kopf gezogen, aber die Sonnenbrille behielt er nach wie vor auf der Nase, obwohl die Sonne selbst überhaupt nicht zu sehen war. Nun fing es sogar leicht zu nieseln an. Seine Hände, welche den Pkw in eine leichte Linkskurve zogen, steckten in feinen Lederhandschuhen. Aufmerksam kontrollierte Bernd Auerbach den rollenden Verkehr vor und hinter sich. Immer wieder wanderten seine Augen auf den Innenspiegel des Pkw. In dieser frühen Morgenstunde war noch nicht viel los auf den Straßen der Stadt. Der Berufsverkehr setzte gerade erst ein und er hatte noch mehr als eine Stunde, um sein Vorhaben auszuführen. Zeit, schnell noch im bunten Treiben der Bahnhofshalle bei McCafé ein Frühstück einzunehmen.
Der warme Kaffee tat ihm gut, und er dachte an seinen ersten Auftrag, den er vor zwei Wochen von Thomas Keller erhalten hatte. Endlich ging es los. Endlich