Logbuch Deutsch. Roland Kaehlbrandt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roland Kaehlbrandt
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783465242550
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Es sind regelrechte Sprachkunstwerke. Aus drei einfachen Wörtern ist anschmiegsam gebaut: im Wortkern das Verb sich anschmiegen, dann das Adjektivsuffix -sam, das es uns ermöglicht, ein Verb in ein Adjektiv umzuformen, und im Verb selbst die Vorsilbe -an, die die räumliche Nähe zwischen zwei Personen zusätzlich unterstreicht (im Gegensatz zu anderen denkbaren Vorsilben wie auf-, oder ab-). Anschmiegsam ist nicht nur in der Geste schön, die das Wort bezeichnet (bezeichnet ist hier nicht ganz richtig: Wir bezeichnen mit Wörtern eine geistige Vorstellung, nicht den Sachverhalt direkt), sondern auch im Klangbild. Und in dieser Parallelität wirkt das Wort besonders intensiv. Hinzu kommt die Abgrenzung in der Bedeutung gegenüber formverwandten Verben wie z. B. anlehnen). Anschmiegen ist eben nicht nur anlehnen, sondern es bringt eine größere Nähe, fast schon Intimität zum Ausdruck.

      Das unscheinbare Wort unnahbar ist ein ebensolches Kunstwerk. Aus drei Elementen gebildet, bringt es uns eine ganze Vorstellungswelt vor Augen. Mit der Unnahbarkeit (das Substantiv ist im Deutschen auch gleich zur Hand) hat es eine schwierige Bewandtnis, denn einerseits will der Unnahbare nicht, dass sich ihm jemand nähert, und andererseits nimmt er sich selbst die Möglichkeit der Nähe anderer. Noch dazu kann es sein, dass der Betreffende nicht einmal willentlich unnahbar wirkt, sondern unwillkürlich und unabsichtlich. Ein so komplizierter Charakterzug steckt allein in jenen drei harmlosen Elementen, aus denen das Wort gebaut ist.

      Es sind Zusammensetzungen dieser Art, die es im Deutschen möglich machen, so viele feine Unterschiede zu benennen und damit letztlich auch zu schaffen. Es sind sprachlich-geistige Schöpfungen, die wir in der Wortbildung hervorbringen. Sie sind keineswegs trivial, auch wenn sie uns so leicht fallen. Die Wortbildung ist ein elementarer Vorgang. Denn in den Wörtern erfahren wir die Welt, in ihnen bestimmen wir unsere Welt, und mit ihnen sprechen wir über unsere Welt.

      Zu den Vorzügen unserer Sprache rechne ich auch den Satzbau. Das mag manchen Leser überraschen, wird doch gerade der deutsche Satz von Kritikern als Zumutung empfunden. Natürlich gibt es sie, die Bandwurmsätze, bei denen sich erst am Ende mehrerer voneinander abhängiger Nebensätze durch das Verb erschließt, was ihre Gesamtbedeutung ist. Aber auch das muss nicht immer ein Nachteil sein, wie wir sehen werden.

      Der Satzbau im Deutschen ist sehr flexibel – eine Folge des von Mark Twain so ungeliebten ausgeprägten deutschen Kasussystems.3 Es ist einleuchtend, dass eine Sprache mit ausgeprägtem Kasussystem in der Wortstellung mehr Freiheit geben kann. Den Vorteil einer leicht zu bildenden Wortgruppe ohne Kasusmarkierung bezahlt der Sprecher des Französischen mit einer Einschränkung in der Wortstellung. Man kann eben nicht alles haben. Im Deutschen kann man den Satz Ich habe ihm das Buch geschenkt mehrfach drehen und wenden und ihn damit in einer immer wieder anderen Bedeutung verwenden: Ihm habe ich das Buch geschenkt; wenn es darum geht, den Empfänger stark zu betonen. Ich habe das Buch ihm geschenkt, hier wird der Empfänger etwas schwächer betont als im Satz zuvor, weil er sich die Aufmerksamkeit des Hörers mit dem Buch teilen muss. Das Buch habe ich ihm geschenkt, wenn das Geschenk selbst betont werden soll; Geschenkt habe ich ihm das Buch, wenn man verdeutlichen will, dass man das Buch nicht verkauft oder verliehen hat. Nur die Wortstellung Ich ihm habe das Buch geschenkt wird im Deutschen nicht akzeptiert.4

      Wenn man nun noch Umstandsbestimmungen der Zeit, des Ortes oder etwa des Grundes oder der Art und Weise hinzufügt (Heute Morgen, im Restaurant, wegen seiner Mithilfe, mit großer Freude), ergeben sich noch mehr Möglichkeiten der Wortstellung und ebenso viele Nuancen, im Satzinhalt eine andere Betonung des Wichtigen vorzunehmen.5 Elastizität und Nuancenreichtum, das sind Vorzüge des deutschen Satzbaus.

      Eine weitere Besonderheit des deutschen Satzbaus rührt von der Teilung des Prädikats her, von der Verb- oder Satzklammer. Sie betrifft einmal die Hilfs- und Modalverben, die ein Hauptverb in seiner Bedeutung spezifizieren wie in dem Satz: Paul hat Gaby auch am letzten Abend gegen 19.00 Uhr auf dem Bahnsteig von Köln-Ehrenfeld nicht gesehen. Die Klammer wird hier von hat bis nicht gesehen gebildet, und mancher Nicht-Muttersprachler stöhnt über die lange Strecke, die er zurücklegen muss, bis er den wahren Sinn des Satzes verstanden hat, denn dieser erschließt sich ja erst ganz am Ende.6 Ebenso hört man Klagen von Nicht-Muttersprachlern, die einen Satz in korrekter Satzklammer formulieren wollen und dabei den Überblick verlieren (wobei dies den Muttersprachlern ja auch häufig widerfährt). Man kann aber die Satzklammer umgehen.7 Den obigen Satz kann man problemlos so umformen, dass die möglicherweise wichtigste Nachricht am Anfang des Satzes steht und der Rest in einen Nebensatz ausgelagert wird: Paul hat Gaby nicht gesehen, als er am letzten Abend gegen 19.00 Uhr auf dem Bahnsteig von Köln-Ehrenfeld war. Man kann sogar das Gesehen-Haben noch stärker betonen, indem man es an den Anfang des Satzes stellt: Gesehen hat er sie nicht …

      Aber die Verbklammer hat auch ihr Gutes. Nehmen wir den Satz: Sie gibt ihre anspruchsvolle und interessante Tätigkeit auf. Am Ende könnte es auch heißen: … nicht auf. Oder: … an eine Kollegin ab. Oder: … nicht an eine Bekannte, sondern an einen neuen Kollegen ab. Dadurch dass die Inhalte des Satzes erst am Ende durch den Verbbestandteil (auf ab) richtig eingeordnet werden, bekommen wir eine synthetische Vorstellung der Lage: Der Satzinhalt wird zu einer Vorstellung zusammengedrängt. Die Bedeutung des Satzes ist so lange in der Schwebe, bis wir ihn ganz gehört haben, und erst am Ende verstehen wir ihn richtig. Man muss durch die Verbklammer alle Bestandteile des Satzes im Gedächtnis behalten, um am Ende des Satzes mithilfe des Verbs oder seiner Vorsilbe oder auch seiner Verneinung die Bedeutung richtig interpretieren zu können. Das kann in Satzgefügen oder auch in einfachen Sätzen mit komplexen Substantivgruppen eine anspruchsvolle Übung sein, und für den Nicht-Muttersprachler, der dies nicht gewohnt ist, muss eine solche Wortstellung sowohl beim Hören als auch beim Sprechen anfangs recht schwierig erscheinen. Aber im Gegenzug bildet der deutsche Satz mit seiner Eigenart der Verbklammer eben jene synthetische Vorstellung, die es einem ermöglicht, alle Elemente des Satzes in ihrer gegenseitigen Beziehung zueinander als ein Ganzes zu erfassen. Ein weiterer Vorzug der Verbklammer ist ihre Gliederungsfunktion in einem Satzgefüge. Sie markiert nämlich unmissverständlich das Ende eines Satzes, an das nun ein Nebensatz angeschlossen werden kann: Sie gibt ihre anspruchsvolle und interessante Tätigkeit auf, weil sie ein Erbe antreten kann.

      Einige Sprachwissenschaftler aus dem romanischen Sprachraum deuten den Satzbau der französischen Sprache als das Gegenteil der sogenannten „regressiven“ (= rückwärtsgewandten oder rückbezüglichen) Wortstellung des Deutschen. Der französische Satz, so ihre These, gehorche einer natürlichen Wortstellung („ordre naturel“ oder „ordre direct“), indem er alles stets der Abfolge Subjekt, Prädikat, Objekt unterwerfe;8 im Deutschen sei diese Ordnung auf den Kopf gestellt; das gelte auch für Wortgruppen wie zum Beispiel ein zwei Meter langer Tisch oder ein auf den Stuhl gelegter Mantel; das Französische stelle hier ganz logisch das Substantiv an den Anfang, gefolgt von den Wörtern, die es weiter bestimmen (une table longue de deux mètres; un manteau posé sur une chaise); der Leser oder Hörer könne bequem der Ordnung der Wörter folgen, weil sie sich eins nach dem andern und vom Wichtigsten ausgehend erschlössen; im Deutschen könne der Sprecher nach Belieben alles umstellen und hin- und herrücken, ohne sich beim Sprechen um die natürliche Ordnung der Dinge zu kümmern; im Französischen werde er hingegen zur sachlich richtigen Wortstellung gezwungen; das Deutsche sei eine Sprache für Sprecher, das Französische eine für Hörer.9

      Aber was ist eine „natürliche“ Wortstellung? Für die Franzosen der Aufklärung war es die Folge Subjekt – Verb – Objekt, an die sie selbst sich so wenig hielten wie andere Sprachgemeinschaften. Noch schwerer sind mentalitätsbezogene Weltbildthesen zu beurteilen, die aus den genannten sprachlichen Unterschieden abgeleitet worden sind (Rationalität im Gegensatz zum Gefühl, Objektivität im Gegensatz zur Subjektivität).

      Es gibt immerhin einiges, was für die im Deutschen mögliche vorangestellte Attribuierung (ein auf den Stuhl gelegter Mantel) spricht. Denn das Deutsche eröffnet dadurch die Ausbaufähigkeit des Nomens nach beiden Seiten, nämlich durch vorangestellte Attribute und durch nachfolgenden Relativsatz (ein auf den Stuhl gelegter