„Ich liebe sogar deine Launen.”
Sie verdrehte die Augen „Ist denn dein Beruf nicht abenteuerlich genug – auf seine Art zumindest?” stellte siesorgenvoll fest, während sie mechanisch und achtlos ein Brötchen mit Honig bestrich.
Dann richtete sie sich auf und verfiel in einen heroischen Ton. „Pfandfinder im deutschen Steuerdschungel, die letzten Abenteurer der Menschheit!” Dabei grinste sie hämisch. „Eine Steuererklärung auf dem Bierdeckel unterzubringen müsste doch für dich und deine berufliche Mischpoche so aufregend sein wie die Entdeckung Amerikas oder die erste Mondlandung.”
Ich schüttelte den Kopf, als ob ich mit der Weisheit des ach so vernünftigen Erwachsenen die überbordende Fantasie eines kleinen Mädchens abtun wollte. Dabei versuchte ich eine plötzlich aufkommende Unsicherheit, ein flaues Gefühl in meinem Magen zu überspielen und schob meine plötzlichen angsterfüllten Vorahnungen grob fahrlässig zur Seite.
„Ich weiß ja noch gar nicht, was Heribert überhaupt von mir will. Warte es doch erst einmal ab”, versuchte ich sie zu beschwichtigen. „Bitte gib Frau Dengler Bescheid, dass ich erst heute Nachmittag in der Kanzlei sein werde.”
Sonja nickte, reckte das Kinn herausfordernd nach oben und spitzte die Lippen. Nur zu gerne beugte ich mich zu ihr herunter, pflückte sorgsam einen Brötchenkrümel von ihrem linken Mundwinkel und küsste sie zum Abschied. In unserem Kuss lag eine Innigkeit, die mich selbst immer wieder mit Glückseligkeit erfüllte. In der Türfüllung drehte ich mich noch einmal um und warf ihr eine Kusshand zu.
„Ruf mich heute Nachmittag nach der Schule an. Es interessiert mich, was Heribert wieder ausgeheckt hat.”
Den Kopf hielt sie dabei leicht schräg geneigt, den Ellbogen des rechten Armes, in dessen Hand sie das inzwischen fertig geschmierte Honigbrötchen hielt, hatte sie aufdem Tisch aufgestützt. Ihr flammendrotes Haar, das in seiner kurz geschnittenen Facon perfekt zu ihrer weiblichen und dennoch sportlichen Figur passte, glänzte in der Sonne, die durch das Fenster schien.
Ich hätte nicht mehr gedacht, dass ich so etwas nach der selbstverschuldeten Trennung von Beatrice, meiner ersten Frau, noch einmal mit dieser Intensität würde erleben dürfen. Und trotz meiner weiterhin starken Empfindungen Beatrice und natürlich meinen erwachsenen Söhnen Mark und Marius gegenüber, hatte ich kein schlechtes Gewissen. Was mich mit Sonja verband war zwar ebenso heftig, aber anders und damit in Ordnung.
Wie so oft überflutete mich bei ihrem Anblick eine Welle unendlicher Vertrautheit und Sicherheit und doch zugleich der Angst, die wunderbare Frau irgendwann einmal zu verlieren. Hätte ich in diesem Moment gewusst, dass die Weichen zu eben so einer schmerzhaften und endgültigen Trennung mit genau diesem Telefonat bereits gestellt worden waren, niemals wäre ich so sträflich leichtfertig mit meiner Vorahnung umgegangen.
Später habe ich mich immer wieder gefragt, weshalb Menschen, und im Besonderen wohl ich, einfach nicht häufiger ihrer Intuition folgen oder doch wenigstens aus ihrer Erfahrung dazulernen können. Aber wieder einmal folgte ich unkritisch einem inneren Drang auf der Suche nach Neuem, nach Unbekanntem. Und bald musste ich erneut feststellen, dass man dabei manchmal etwas entdeckt, das man gar nicht finden wollte.
Ich verließ das Wohnhaus, verdarb meinen beiden Bernersennhündinnen Hanna und Kira die Vorfreude auf einen Spaziergang, indem ich ihnen befahl, sich in einer sicheren Ecke des Innenhofes zu platzieren und öffnete das zweiflüglige Straßentor, um meinen Wagen rauszufahren. Dabei winkte ich Frau Dengler zu, die mich irritiert durch das große Bürofenster des Kanzleigebäudes beobachtete.
Sie arbeitete nicht nur seit mehreren Jahren als Sekretärin bei mir, sondern war auch die Lebensgefährtin von Carlo Dornhagen. Für das nächste Jahr war die Hochzeit geplant. Carlo hatte ich in seiner Funktion als Betriebsprüfer beim Finanzamt Alzey kennen und – es mag den vorurteilsbehafteten Steuerpflichtigen wundern – schätzen gelernt. Er hatte das sichere, pensionsberechtigte Beamtenverhältnis gegen die stressbeladene 60-Stunden-pro-Woche-Tätigkeit und die zeitlich unbegrenzte Verantwortung des selbständigen Steuerberaters getauscht. Er war allerdings mehr als nur Partner in der Kanzlei, die ich wiederum vor über 20 Jahren von meinem Vater übernommen hatte. Entsprechend der vertraglichen Verkaufsbedingungen hatte ich mich inzwischen zu 50 Prozent aus dem Tagesgeschäft verabschiedet und arbeitete als freier Mitarbeiter, wie es der Paragraph 58 des Steuerberatungsgesetzes vorsieht.
Es war ein wunderschöner, stimmungsvoller Herbstbeginn. Die Morgensonne tauchte die Weinberge in ein mildes Licht, als ich auf der Kreisstraße in Richtung Alzey fuhr.
Seit 15 Jahren lebte ich in Bernheim, einem kleinen Winzerdörfchen in der so genannten Rheinhessischen Schweiz. Ein ehemaliges landwirtschaftliches Anwesen, fast mitten im Dorf gelegen, war zu meinem vertrauten Lebens- und Arbeitsraum geworden. 1857, zu der Zeit, als Otto von Bismarck seine politische Karriere als preußischer Gesandter begründete, waren Wohn- und Kelterhaus, Scheunen, Stallungen und die Gewölbekeller errichtet worden. So zumindest besagte es die in einen Fenstersturzgehauene Jahreszahl. Nach typischer Bauart der damaligen Zeit hatte man für die Außenmauern Sandsteine aus den benachbarten Steinbrüchen verwendet, während die Innenwände aus Fachgewerken bestanden, die mit lehmverputzten Grünlingen ausgemauert waren. Die Gebäude erstreckten sich u-förmig um den charakteristischen, kopfsteingepflasterten Innenhof, der mit einem großen Tor von der Straße abgetrennt war. In dem ehemaligen Kelterhaus waren die Kanzleiräume der Steuerberatungspraxis untergebracht, was wohl einen eher beflügelnden, keinesfalls jedoch ungünstigen Einfluss auf die Arbeitsqualität der sieben Mitarbeiterinnen hatte.
Diese Idylle teilte ich mit meinen beiden Hunden und einem Kater; vor allem aber mit Sonja Strobel, die nach anfänglichen Irrungen und Wirrungen unserer frischen Beziehung immer häufiger für einige Tage mein Domizil ihrer Wohnung vorzog. An einem der Gymnasien in Alzey weihte sie mehr oder weniger willige Jugendliche in die dunklen Geheimnisse der höheren Mathematik ein. Vor einigen Jahren hatte sie sogar einen meiner Söhne unterrichtet. Sie liebte ihren Beruf, obwohl sie aus existentiellen Gründen nicht auf die Anstellung im Schuldienst angewiesen war. Alleine schon durch ihr Elternerbe war sie finanziell unabhängig und wollte es, wenigstens jetzt noch, auch in privater Beziehung bleiben. Daher hielt sie weiterhin an ihrer Eigentumswohnung in Alzey fest, was mir das beruhigende Gefühl gab, dass sie aus Liebe bei mir war – und blieb – und nicht etwa aus Versorgungsgründen.
Das Mittelzentrum Alzey mit seinen circa 19 000 Einwohnern, liegt 15 Kilometer, also eine gute viertel Stunde von Bernheim entfernt. Wie üblich hatte ich auf der Fahrt das Autoradio an und hörte meinen Lieblingssender SWR 1,bei dem auch Beatrice als Redakteurin beschäftigt war. Ich entsinne mich noch, dass es in der Sendung, die gerade lief, um die verzweifelten Beschwichtigungsversuche von Verkehrsminister Stolpe hinsichtlich der Mautpleite ging und um die Mannesmannaffäre.
Normalerweise ist eine Autofahrt durch die Rheinhessische Schweiz ein Vergnügen für das Auge und die Seele. Ein fast fühlbarer Zusammenklang von beruhigenden Sinneseindrücken überwältigt einen, wenn man die Reize der Landschaft auf sich wirken lässt. Auch wenn es ein wenig werbeträchtig erscheinen mag, der oft geprägte Vergleich mit der Toskana ist doch recht treffend: Romantische Weindörfer und Winzerhöfe, stille, verträumte Winkel in denen die Zeit still zu stehen scheint, Gaumenfreuden einer traditionellen Küche und die lebensbejahende, vielleicht auch von den exzellenten Weinen beflügelte Lebensart der Menschen mit ihrer abwechslungsreichen und teilweise absonderlichen Mundart – das alles schafft ein beinahe südländisches Flair.
Aber all das konnte mich an diesem Morgen nicht von meinem schlechten Gefühl abbringen. Zunächst ärgerte ich mich über das, was im Rundfunk über den Mannesmannprozess berichtet wurde. Es gehörte schon immer zu meiner Kanzleiphilosophie, dass für meine Mandanten, die Mitarbeiter und mich Fairness und Rechtsbewusstsein