"Rosen für den Mörder". Johannes Sachslehner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johannes Sachslehner
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783990404669
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sind „mit sofortiger Wirkung verpflichtet, auf der rechten Brustseite und am Rücken einen – mindestens 10 cm breiten – weißen Streifen mit dem gelben Zionsstern oder einen 10 cm großen gelben Fleck zu tragen. Diese Armbinden bzw. Flecke haben sich die Juden und Jüdinnen selbst zu verschaffen und mit dem entsprechenden Kennzeichen zu versehen.“ Mit einer Reihe weiterer Schikanen wird die jüdische Bevölkerung systematisch ihrer Menschenwürde beraubt: Juden dürfen von nun an die Gehsteige nicht mehr benutzen, verboten sind ihnen ebenso Promenaden und öffentliche Parkanlagen sowie Strände. Verboten ist ihnen ab sofort auch die Benützung aller öffentlichen Verkehrsmittel und von Taxis, die Betreiber öffentlicher Verkehrsmittel müssen dafür sorgen, dass in ihren Fahrzeugen gut sichtbar ein Schild „Nur für Nichtjuden“ angebracht ist. Später wird auch „das Grüßen seitens der Juden und Jüdinnen“ ausdrücklich verboten, „Zuwiderhandlungen“ werden natürlich streng bestraft.

      Wenige Tage später verschärft das Gebietskommissariat diese Bestimmungen und nennt 17 „Prinzipialstraßen“, die von nun an von Juden nicht mehr betreten werden dürfen. Als der Judenrat daraufhin am 18. August interveniert, lässt sich Murer zu einer Sonderregelung bewegen: 5 Mitgliedern des Judenrates soll das Betreten dieser „Prinzipialstraßen“ gestattet sein, weiters auch zwei „Courieren“, um den Dienstbetrieb aufrechtzuerhalten. Der Referent für jüdische Angelegenheiten im Landkreis Vilnius, zu diesem Zeitpunkt noch ein Herr Jonas Čiuberkis, wird von ihm gebeten, entsprechende Ausweise „mit den Namen der Juden“ auszuarbeiten. (LCVA, R-643, ap. 3, b. 300, BL. 50)

      Von Anfang an, so hat man den Eindruck, ist es Murer, der das Heft in die Hand nimmt. Vor Gericht wird er später treuherzig beteuern, nur für das Landwirtschaftsreferat zuständig gewesen zu sein, in seiner im Alter verfassten autobiografischen Notiz räumt er ein, dass er die „Landwirtschaft im Stadtbereich“ nur „nebenbei“ zu betreuen hatte, damit verknüpft wäre gewesen, „die Ablieferungspflichten einzuführen, das Verwaltungsstrafrecht bei Preisüberwachung und Schleichhandel auszuüben und die Preisüberwachungsstelle zu übernehmen. Weiters die Kraftfahrzeug-Zulassung und den Kraftfahrzeugpark zu organisieren“ – all das in Zusammenarbeit mit der litauischen Stadtverwaltung. Seine Hauptaufgabe als Stabsleiter und Adjutant Hingsts liegt aber von Anfang an in der Auseinandersetzung mit „Judenangelegenheiten“ und da will er es den Juden gleich einmal so richtig zeigen:

      Am 6. August 1941 lädt Franz Murer – angeblich auf Befehl von Hingst und SS- und Polizeiführer Lucian Wysocki – Mitglieder des Judenrats zu einem Gespräch ein, es kommen Eliezer Kruk, Abraham Zajdsznur und Shaul Pietuchowski. Das Treffen findet jedoch nicht in den Büroräumen des Gebietskommissariats statt, sondern in einem Haus in einer nahe gelegenen Gasse. Murer überrascht die drei Männer mit einer schockierenden Forderung: Am nächsten Tag, dem 7. August, müssten ihm die Juden fünf Millionen Rubel (= 500.000 Reichsmark) „Bußgeld“ übergeben. Um neun Uhr morgens, so Murer weiter, solle ihm die Deputation des Judenrats die ersten zwei Millionen überbringen, im Laufe des Tages dann die weiteren Millionen. Und dann eine deutliche Drohung: Sollten ihm die zwei Millionen nicht am nächsten Morgen übergeben werden, so hätten sich um zehn Uhr alle anderen Mitglieder des Judenrats bei ihm einzufinden, um die Leichen ihrer Kollegen abzuholen.

      Die drei Männer kehren in den Judenrat zurück, Panik macht sich breit, als sie von Murers Forderung berichten. Wie soll man so schnell so viel Geld auftreiben? Auf den Straßen dürfe man sich bis sechs Uhr abends aufhalten, zahlreiche Straßen sind für Juden überhaupt gesperrt. Schließlich ist es, wie Herman Kruk in seinem Tagebuch berichtet, der greise Arzt Dr. Jakob Wygodzki, der seine Stimme erhebt: Für Verzweiflung sei keine Zeit, man müsse sofort mit dem Sammeln des Geldes beginnen.

      Die Nachricht von Murers Bußgeld-Forderung verbreitet sich rasch. Spontan werden Komitees gebildet, die einzelne Straßen und Stadtteile übernehmen, man beginnt mit dem Einsammeln von Geld, Gold und diversen Wertgegenständen. Um sechs Uhr abends hat man 667.000 Rubel, ein Pfund Gold, Uhren und Diamanten beisammen. Viele Juden glauben, dass sie mit ihrer „Spende“ ihr Leben erkauft haben. Andere wieder hoffen, dass die Tributzahlung dazu beitragen könne, etwas über das Schicksal ihrer verschleppten Angehörigen zu erfahren.

      In ihrem Tagebuch schildert Mascha Rolnikaite die Verzweiflung dieses Tages – der 14-Jährigen hat man gesagt, dass die Deutschen am nächsten Morgen mit der Tötung aller Juden beginnen werden, sollte die geforderte Summe nicht abgeliefert werden. Ihre Mutter hat „alles Geld bis auf den letzten Groschen zusammengesucht“ und dem Judenrat gebracht, sie selbst glaubt sich schon verloren: „Ich stehe am Fenster, sehe hinaus und weine: Der Gedanke, dass ich morgen sterben muss, ist furchtbar. Bis vor kurzem bin ich doch noch in die Schule gegangen, bin durch die Schulflure gelaufen, habe an der Tafel gestanden, und plötzlich heißt es – stirb!“ (Zitiert nach Mascha Rolnikaite, Ich muss erzählen.)

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      Adjutant Franz Murer ist gnädig: Er gestattet den Mitgliedern des Judenrats das Betreten von 17 „Prinzipalstraßen“ (LCVA, R-643, ap 3, b 300, Bl. 50).

      Am Morgen des 7. August, pünktlich um 9 Uhr, stehen Kruk, Zajdsznur und Pietuchowski wieder vor Murer. Er geht mit ihnen in den Keller des Hauses, zählt das mitgebrachte Geld und fragt dann, wo denn der Rest sei. Die drei Männer erklären ihm, dass noch gesammelt werde. Murer schickt daraufhin Abraham Zajdsznur zurück zum Judenrat, die beiden anderen werden festgenommen. Die Order, die Zajdsznur zu überbringen hat: Alle Mitglieder des Judenrats müssten sofort vor Murer erscheinen und den ganzen Betrag mitbringen.

      Der Judenrat kommt denn auch vollzählig, allerdings ohne Geld. Dr. Wygodzki wagt sich mit der Bitte vor, die Frist für die Aufbringung des gesamten Betrags auf zehn Tage zu erstrecken. Murers Antwort, so berichtet Grigorij Schur, ist ein Wutschrei: „Verdammter alter Jude!“ – er befiehlt Wygodzki zu schweigen. Einen ähnlichen Fluch bekommt auch die Ärztin Dr. Cholemowa zu hören, als sie für Wygodzki in die Bresche springen will und auf die knappe Frist verweist: „Du Hure, sei still, bevor ich meine Geduld verliere!“ (Zitiert nach Mendel Balberyszski, Stronger than Iron.) Murer, der die ganze Zeit über mit seiner Peitsche herumfuchtelt, lässt zwei Judenrat-Mitglieder festnehmen und erklärt den anderen, dass auch sie dieses Schicksal erleiden würden, sollte der fehlende Betrag nicht endlich aufgebracht werden. Sollte dies aber der Fall sein, würde er sie „wie Hunde“ erschießen lassen (Mendel Balberyszski). Dann nimmt er den Koffer mit dem Geld und den Wertgegenständen und verlässt das Haus.

      Wenige Stunden später besucht der mit Jakob Wygodzki befreundete Pharmazeut Mendel Balberyszski den alten Herrn, der sich über die Vorgangsweise Murers nicht beruhigen kann. In seinem Augenzeugenbericht Stronger than Iron erzählt Balberyszski: „‚Du weißt‘, sagte er zu mir, ‚ich bin ein Mann, der nicht leicht einzuschüchtern ist. Ich kenne die Deutschen nicht erst seit heute. Aber was meine Augen bei diesem Treffen gesehen und meine Ohren gehört haben, hätte ich mir nie vorstellen können. Sich einer Dame gegenüber, einer Frau Doktor, so vulgärer Ausdrücke zu bedienen, seine unflätige, arrogante Sprache mir gegenüber und das ständige Herumfuchteln mit der Peitsche vor meinen Augen deuten auf eine tragische Zukunft. Von diesen beiden (= Hingst und Murer, Anm. J. S.) können wir nichts erwarten. Das Geld muss gesammelt werden. Wir können nur hoffen, dass das Geld die Bestie beruhigen wird … zumindest für einige Zeit.‘“ (Übersetzung: J. S.)

      Die Judenräte beraten inzwischen über die weitere Vorgangsweise und beschließen, eine Abordnung von drei Leuten zu Gebietskommissar Hingst zu schicken, um die festgenommenen Kameraden wieder freizubekommen. Vor dem Gebietskommissariat stoßen die drei neuerlich auf Murer, der sich nun etwas umgänglicher zeigt – von einer Übergabe des gesamten Betrags noch an diesem Tag ist keine Rede mehr, er verlangt jedoch, dass in den nächsten Tagen weiter gesammelt wird, die Erlöse sollen jeweils auf der Bank deponiert werden. Um 13 Uhr werden auch die festgenommenen Mitglieder des Judenrats freigelassen. Auch Mascha Rolnikaite kann aufatmen: „Wir werden also am Leben bleiben!“, notiert sie in ihrem Tagebuch.

      Die Sammelaktion dauert noch einige Tage an, schließlich sind es 1,490.000 Rubel, 33 Pfund Gold und 189 Uhren, die Murer übergeben werden, für die Wertgegenstände gibt es keine Empfangsbestätigungen – all das nährt den Verdacht, dass die