"Rosen für den Mörder". Johannes Sachslehner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johannes Sachslehner
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783990404669
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sich aber den Wohnraum. Auch ihr Chef, Hans Christian Hingst, hat seine Wohnung in diesem Haus. Die Verteidigung wird im Prozess 1963 als Entlastungszeugen auch Lackner vorladen, der Kärntner Blutordensträger lässt seinen alten Kumpel auch nicht im Stich: In der Schilderung Lackners ist Murer ein harmloser Zivilbeamter, das Gebietskommissariat habe sogar als „judenfreundlich“ gegolten. In den Geheimberichten, die er von einer Jüdin aus dem Ghetto erhalten habe, sei der Name Murer nie vorgekommen.

      Tatsächlich übernimmt der Steirer die „Kernzuständigkeiten“ (Christoph Dieckmann) des Gebietskommissariats: Judentum, Polizei, Volkstums- und Siedlungsfragen, Preisbindung und -überwachung sowie das Verkehrswesen. Sein für das jüdische Vermögen zuständiger Mitarbeiter ist der Litauendeutsche August Kühn, ein ehemaliger Volksschullehrer, der nun in Iserlohe, Westfalen, lebt. Auch er wird 1963 zum Prozesss nach Graz vorgeladen und auch er bestätigt, wie korrekt und fürsorglich Murer gewesen sei: „Murer war Adjutant des Gebietskommissars und Referent für Landwirtschaft, Preisüberwachung und Fahrbereitschaft. Mit Juden hat er nur in wirtschaftlichen Sachen zu tun gehabt. Bei der Errichtung des Ghettos war er Vertreter des Gebietskommissars. Murer war oft im Ghetto und ich bin ein einziges Mal mit ihm gewesen. Sein Ruf im Ghetto war nicht schlecht. Man hat nichts Schlechtes über ihn gehört. (…) Es ist mir völlig unbekannt, daß Murer von den Juden so gefürchtet war.“ (Zitiert nach Gerichtsakt Franz Murer, Steirmärkisches Landesarchiv.)

      Ein Mädchen erlebt Franz Murer:

       Mascha Rolnikaite

      Mascha Rolnikaite ist 13, als die Deutschen nach Wilna kommen, in wenigen Wochen, am 21. Juli, will sie ihren 14. Geburtstag feiern. Ihr Vater, der jüdische Rechtsanwalt Dr. Hirsch Rolnik, hat in Leipzig promoviert und spricht fließend Deutsch, ihre Mutter Taiba Rolnikene kümmert sich um den Haushalt. Die Familie – Mascha hat noch drei Geschwister: die 16-jährige Schwester Mira, den 5-jährigen Bruder Ruwele und die 7-jährige Schwester Rajele – ist erst 1940 aus der nordwestlitauischen Kleinstadt Plunge nach Wilna gezogen und hat eine Wohnung im zweiten Stock in der Deutschen Straße 26 gemietet. Am Sonntag, dem 22. Juni 1941, dem Tag des ersten Bombenangriffs der deutschen Luftwaffe auf Wilna, bricht ihre Welt zusammen. Ein Fluchtversuch der Mutter mit den vier Kindern in Richtung Minsk scheitert im Chaos, der Vater Hirsch Rolnik wird von seiner Familie getrennt. Von den Fenstern ihrer Wohnung aus beobachten Mira und Mascha am 24. Juni den Einmarsch der Deutschen. Die „schwarze Spinne, das faschistische Hakenkreuz, macht uns große Angst“, schreibt Mascha in ihrem Tagebuch. Auf Zetteln und Papierschnipseln notiert sie von nun an den Leidensweg der Familie, immer mit der Gefahr lebend, dass ihre Aufzeichnungen bei einer Hausdurchsuchung entdeckt werden könnten – Franz Murer, so befürchtet sie, würde sie und alle anderen Hausbewohner auf der Stelle erschießen lassen.

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      Befürchtet von Murer erschossen zu werden: Mascha Rolnikaite. Ihr Tagebuch, eine wichtige Quelle für das Schicksal der Wilnaer Juden, wird erst nach dem Grazer Prozess gegen den Steirer publiziert.

      Maschas Geburtstag wird trotz des Schreckens gefeiert. „Als Mama mir gratuliert und ein langes Leben gewünscht hat, ist sie in Tränen ausgebrochen. Wie oft habe ich diesen einfachen Glückwunsch gehört und mir nichts dabei gedacht: Dabei ist er so bedeutungsvoll …“ (Zitiert nach Mascha Rolnikaite, Ich muss erzählen.)

      Berauben, erpressen, vernichten

      Die erste Aufgabe des Gebietskommissariats: Es muss sich seinen Platz im Reigen der einzelnen NS-Dienststellen erkämpfen. Da ist einmal die Wehrmachtsfeldkommandantur, Gestapo, SD und Sicherheitspolizei (Sipo) haben sich ebenfalls bereits in der Stadt eingenistet, später kommt auch noch eine SS- und Polizeistandortkommandantur dazu, die von dem aus Preußisch Stargard stammenden SS- und Polizeiführer Lucian Wysocki (1899–1964) geleitet wird. Und es gibt eine intakte litauische Stadtverwaltung mit dem litauischen Bürgermeister Karolis Dabulevičius an der Spitze, die zum unmittelbaren Ansprechpartner oder besser „Befehlsempfänger“ wird. Parallel zum Gebietskommissariat Wilna-Stadt wird das Gebietskommissariat Wilna-Land eingerichtet, dem der SA- und spätere SS-Angehörige Horst Wulff (1907–1945), ein ehemaliger Hotelkaufmann, als Gebietskommissar vorsteht.

      Die Arbeitsrichtlinien und Verordnungen von Rosenbergs Ministerium für die Zivilverwaltung in den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine ergehen schließlich am 3. September 1941, zusammengefasst in einer Dokumentensammlung, die als Braune Mappe bekannt geworden ist. Die Aufgabe des Gebietskommissars wird darin folgendermaßen definiert: „Der Gebietskommissar leitet als untere Verwaltungsbehörde im Kreisgebiet die gesamte Verwaltung nach den Weisungen des Generalkommissars und der übergeordneten Dienststellen. Bei ihm liegt daher das Schwergewicht der gesamten Verwaltung.“ Und in den „Arbeitsrichtlinien“ für die Zivilverwalter heißt es: „Die erste Aufgabe der Verwaltung in den besetzten Ostgebieten ist, die Interessen des Reiches zu vertreten. Dieser oberste Grundsatz ist bei allen Maßnahmen und Überlegungen voranzustellen. Zwar sollen die besetzten Gebiete in späterer Zukunft in dieser oder jener noch zu bestimmenden Form ihr Eigenleben führen können. Sie bleiben jedoch Teile des großdeutschen Lebensraumes und sind stets unter diesem Leitgedanken zu regieren.“ (Zitiert nach Franz Albert Heinen, Gottlos, schamlos, gewissenlos.)

      Breiten Raum nehmen in diesen „Arbeitsrichtlinien“ von Rosenbergs Ostministerium die „Richtlinien für die Behandlung der Judenfrage“ ein, die systematisch die weitere Isolierung und umfassende Entrechtung der jüdischen Bevölkerung einfordern. Ein „etwaiges Vorgehen der örtlichen Zivilbevölkerung gegen die Juden“, so ein wichtiger Punkt, sei nicht zu hindern, gerne überlässt man das Morden wie in Kaunas litauischen Faschisten und Totschlägern. Ein „erstes Hauptziel der deutschen Maßnahmen“ müsse es sein, das „Judentum streng von der übrigen Bevölkerung abzusondern“, die „Überführung in ein Ghetto“ sei daher anzustreben, das Judentum müsse „Zug um Zug“ aus dem öffentlichen Leben ausgeschieden werden. Bereits mit einer Verordnung vom 16. August 1941 hat Rosenberg die Zwangsarbeit für alle Juden vom vollendeten 14. bis zum vollendeten 60. Lebensjahr eingeführt, nun folgen weitere Schikanen: Juden sollen nur mehr schwere körperliche Hilfsarbeiten leisten und ansonsten „aus dem Wirtschaftsleben ausgeschieden“ werden. Das flache Land sei von den Juden zu „säubern“, das Verlassen der Ghettos in den Städten sei ihnen zu verbieten, es sei ihnen „nur so viel an Nahrungsmitteln zu überlassen, wie die übrige Bevölkerung entbehren kann, jedoch nicht mehr, als zur notdürftigen Ernährung der Insassen der Ghettos ausreicht“. Die „arbeitsfähigen Juden“ seien nach „Maßgabe des Arbeitsbedarfs“ zur Zwangsarbeit heranzuziehen, die Vergütung habe dabei „nicht der Arbeitsleistung zu entsprechen, sondern nur der Bestreitung des notdürftigen Lebensunterhaltes“ zu dienen. Das hermetisch abgeschlossene Ghetto müsse seine „inneren Verhältnisse“ in Selbstverwaltung regeln, das Gebietskommissariat habe darüber die Aufsicht – ein klarer Arbeitsauftrag für Hingst und Murer, dem sie auch auf Punkt und Beistrich nachkommen wollen: „Konzentration, Kennzeichnung, Enteignung und Ausbeutung“ der Juden von Wilna sind ihr Ziel, ein „gestaffeltes System von Ausbeutung, Terror und Kontrolle“, das dafür sorgt, dass diese „tagtäglich im Schatten des Todes“ leben. (Wolfgang Benz, Einsatz im Reichskommissariat Ostland.) Dass sie damit der Endlösung der Judenfrage, der flächendeckenden „Vernichtung“ von jüdischen Männern, Frauen und Kindern, zuarbeiten, scheint die beiden „Goldfasane“ nicht weiter zu stören, ja, sie unterstützen die Mordkommandos mit entsprechenden Maßnahmen. Sie haben zwar nicht das Recht zu töten oder töten zu lassen – sie nehmen es sich jedoch einfach. Die jüdische Bevölkerung untersteht dem Gebietskommissariat in allen zivilen Belangen, Polizei, SD und Gestapo sind für „Sicherheitsbelange“ zuständig, was immer auch das heißen mag – gemeinsam sorgt man für Terror und Tod.

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      Auftakt zum Holocaust: Angehörige des Litauischen Selbstschutzes treiben Juden aus ihren Häusern, Juli 1941.

      Auftakt zu den antijüdischen Maßnahmen bildet eine erste „Bekanntmachung“, die vom Gebietskommissariat am 2. August 1941 veröffentlicht wird. Die