Unsere Kompetenz steht meist viel stärker im Vordergrund als unser Charakter. Das, was wir tun, sorgt für Schlagzeilen, füllt die Seiten unseres Lebenslaufes und ist so stark mit unserer Identität verknüpft, dass wir oft meinen, es sei unsere Identität.
Aber früher oder später hat doch der Charakter das letzte Wort. Wir bekommen vielleicht einen Job aufgrund unserer Kompetenz, weil wir schon bewiesen haben, wie tüchtig wir sind, aber gemocht und akzeptiert werden wir dafür, wer und wie wir sind. Und letztlich wird ja auch unser Handeln dadurch bestimmt, wer wir sind. Man kann sich nicht ewig verstellen, weil das irgendwann zu anstrengend wird, und dann kommt immer unser wahres Gesicht zum Vorschein. Dann zeigt sich, wer man wirklich ist.
Schon in dem Moment, in dem wir einen Menschen kennenlernen, machen wir uns ein Bild, wie er wohl ist. Das geschieht meist gar nicht bewusst und in der Regel auch nicht in böser Absicht. Wir sammeln automatisch Anhaltspunkte für den Charakter und die Kompetenz des anderen und ordnen ihn entsprechend ein – mit uns selbst als Bezugsgröße.
Werden wir Freunde? Möchte ich diesen Menschen näher kennenlernen oder bleibt es besser bei einer lockeren Bekanntschaft? Kann diese Person mir beruflich weiterhelfen? Braucht sie Hilfe? Ist sie eine Bedrohung für mich? Hat sie mir etwas zu bieten oder ich ihr?
Es wäre jetzt einfach, darüber zu jammern und zu klagen, wie egoistisch das alles klingt, und dann festzustellen, dass der Maßstab, den wir bei anderen anlegen, lächerlich subjektiv und heuchlerisch ist, aber ich glaube nicht, dass wir den Menschen damit gerecht würden. Natürlich haben unsere Beziehungen zu anderen Menschen auch etwas Subjektives und Egoistisches. So ist es nun mal einfach in einer gefallenen Welt, und uns so zu verhalten ist ein Teil unseres Selbsterhaltungstriebs.
Es ist einfach unrealistisch zu erwarten, dass wir einander unbesehen und ohne weitere Prüfung einfach so annehmen. Und es ist auch nicht gesund, davon auszugehen, dass jeder unser bester Freund ist und nur unser Bestes im Sinn hat. Deshalb hat Jesus gesagt, dass wir klug wie die Schlangen und ohne Hinterlist wie die Tauben sein sollen.
Bei alldem sollten wir allerdings eines bedenken: Wir sind nicht besonders gut darin, andere zu beurteilen. Haben Sie das auch schon einmal festgestellt? Und mit unserer Fähigkeit, uns selbst zu beurteilen, sieht es ehrlich gesagt auch nicht besser aus.
Das Problem dabei ist gar nicht in erster Linie unser Hang, überhaupt andere zu beurteilen und einzuordnen, sondern die Ungenauigkeit unserer Beurteilung.
Und ich glaube, genau das war es auch, was ich an der Bemerkung meines Kritikers auf YouTube so unverschämt fand. Woher hatte denn der Typ überhaupt seine Informationen? Nach welchem Maßstab beurteilte er mich, und wer oder was berechtigte ihn zu einem solchen Urteil?
Ich will hier jetzt gar nicht über sein Urteilen urteilen, denn das wäre wirklich pure Ironie, aber ich muss entscheiden, wie ich darauf reagieren will. Damit meine ich keine öffentliche Reaktion, sondern etwas viel Wesentlicheres, nämlich eine Antwort auf die Frage, wie ich mich eigentlich selbst sehe und einschätze und wie ich auf die Kritik, die Beurteilungen und Einordnungen einer Welt reagiere, die geradezu besessen ist von Urteilen und Bewertungen? Wie gehe ich mit meinen eigenen Zweifeln, meiner Unsicherheit und meinen Versagensängsten um?
Die Antwort darauf ist eine andere, als man vermuten würde, jedenfalls war es bei mir so, als ich mich intensiver damit beschäftigte.
Was qualifiziert mich eigentlich?
Früher habe ich immer gedacht, dass die Reaktion auf mein Versagen darin bestehen müsse, es zu beheben. Ich war der Meinung, dass der Umgang mit meinen Schwächen zum Ziel haben müsste, sie durch Stärken zu ersetzen. Ich glaubte, das Geheimnis des Erfolges bestehe darin, möglichst perfekt, fehlerlos und so übermenschlich wie möglich zu wirken, und ich kam zu dem Schluss, dass es mein Charakter und meine Kompetenz sind, die mich qualifizieren oder eben disqualifizieren.
Doch der Maßstab, nach dem Gott uns beurteilt, ist ein ganz anderer als unser eigener. Das gilt auch für seinen Umgang mit unseren Schwächen. Wir müssen deshalb andere Kriterien finden, statt unsere Schwächen hervorzuheben und uns geradezu zwanghaft mit unseren Mängeln zu beschäftigen, sodass sie uns immer monströser vorkommen.
In den folgenden Kapiteln werden wir uns mit der Frage beschäftigen, was es bedeutet, nach Gottes Maßstab qualifiziert zu sein, und ich glaube, dass es die Art, wie wir uns selbst und andere sehen, auf den Kopf stellen wird. Bei mir war es jedenfalls so.
Wenn Ihnen klar wird, wie Gott Sie sieht, werden Sie zu der Freiheit und dem Selbstvertrauen gelangen, das er sich für Ihr Leben wünscht.
Und – nebenbei bemerkt – werden Sie beides niemals durch menschliche Fähigkeiten erreichen. Das ist eine Sackgasse. Sie können niemals so perfekt oder fehlerfrei sein, dass Sie allein auf dieser Basis Frieden mit sich haben können.
Frieden und Selbstvertrauen entstehen nur durch eines: durch Annahme.
In einer Kultur, die völlig fixiert ist auf Selbsthilfe und Selbstoptimierung, mag Ihnen dieser Gedanke vielleicht spontan widerstreben, aber es stimmt trotzdem.
Als Erstes geht es dabei um Gottes bedingungslose Annahme Ihrer Person. Gott kennt Ihre wahre Identität, und er liebt Sie genau so, wie Sie sind.
Als Zweites geht es aber auch um Ihre Selbstannahme, einschließlich Ihrer Schwächen. Das bedeutet zum einen, sich auch den Aspekten der eigenen Persönlichkeit zu stellen, die man vielleicht lieber einfach übergehen würde, und zum anderen bedeutet es, genau zu wissen, wer man in und durch Jesus ist (und wer nicht).
Und drittens geht es dabei darum, den Prozess zu akzeptieren, in dem Gott uns verändert. Gottes Wirken in unserem Leben hat nicht zum Ziel, unser wahres Selbst zu unterdrücken oder gar auszulöschen, sondern es soll die beste Version unser selbst zum Vorschein bringen.
Diese drei Begriffe – Identität, Schwäche und Veränderung – werden im Laufe des Buches immer wieder vorkommen, weil sie unmittelbar damit zu tun haben, fähig und qualifiziert zu sein.
Die drei haben eine Art zyklische Beziehung zueinander, die so funktioniert: Ich kenne mein „wahres Ich“ – meine Identität – nur zu gut. Ich weiß, dass ich viele Schwächen habe, was bei mir das Gefühl hervorruft, nicht qualifiziert zu sein. Ich versuche also, mich zu ändern und meine Schwächen zu beheben, aber schon bald macht sich die Realität bemerkbar. Ich merke, dass ich mich nicht selbst in Ordnung bringen kann, mit der Folge, dass meine Identität noch mehr leidet und ich mich noch weniger qualifiziert bzw. noch unfähiger fühle. Solange ich auf meine mangelnde Qualifikation nur mit noch mehr Anstrengung reagiere, sitze ich in einem Teufelskreis fest.
Macht bei Ihnen Ihr Versagen manchmal einen dermaßen heftigen Lärm, dass Sie Ihre Möglichkeiten und Chancen gar nicht mehr wahrnehmen? Sabotieren Ihre Selbstzweifel manchmal einen möglichen Erfolg schon, bevor Sie überhaupt zur Tür hinaus sind?
Die Kluft zwischen dem Menschen, der wir sind, und der Aufgabe, die wir gern bewältigen möchten, kann sich unendlich groß anfühlen, und am Ende stellt sich die Frage: Bin ich dafür eigentlich qualifiziert?
Um es gleich vorwegzunehmen – die Frage an sich ist nicht das Problem. Natürlich sollten Sie sich die Frage stellen, ob Sie für eine Aufgabe qualifiziert sind. Besonders dann, wenn Sie ein Flugzeug lenken oder Menschen am offenen Herzen operieren. In dem Fall überprüfen Sie bitte auf jeden Fall ganz genau Ihre Ausbildung, Ihr Wissen und Ihre Erfahrung. Man wird es Ihnen danken. Und es gibt ganz sicher auch ethische und moralische Standards, die nicht nur im geistlichen Dienst, sondern auf allen Gebieten gelten und aufrechterhalten werden sollten.
Wenn es aber um eher subjektive Fragen geht, dann vergessen Sie nicht, dass Ihre eigene Einschätzung nicht unfehlbar ist.
Und vielleicht – nur vielleicht – überschätzen Sie ja auch Ihre Unzulänglichkeiten und unterschätzen Ihre Gaben. Vielleicht ist ja die Tatsache, dass Sie die Erwartungen anderer oder ihre eigenen nicht erfüllen, gar kein K.o.-Kriterium.