Alle, die mich anfassten – Mutti, Vater und selbst Selma – und versuchten, mich zu beruhigen, schob ich empört weg. Mutti war ratlos, sie weinte plötzlich auch. „So habe ich meinen lieben Klausmann noch nie gesehen. Er ist doch so ein folgsames Kerlchen. Was haben wir nur falsch gemacht?“ Im Unterbewusstsein hörte ich das und antwortete mit der in mir vorhandenen, kochenden Wut „So schlecht habt ihr euch noch nie gegenüber Opa und auch mir gegenüber benommen. Ich werde dem Lothar alles erzählen und erwarte, dass Opa in ein paar Tagen wieder gesund zurück ist! Wenn nicht, so wird es die Oma, die an allem schuld ist – ihr aber auch – mit uns zu tun bekommen. Ihr seid Lügner und behandelt den Opa ganz schlecht.“ Mutti kam tränenüberströmt zu mir gerannt und wollte mich drücken. Ich schob sie erneut weg, rannte schluchzend – „Ich will nichts mehr von dir wissen, Mama!“ – davon.
In der nächsten Zeit hatte ich es nicht einfach, da sich alle mir gegenüber, bis vielleicht auf Frau Kornblume und Erik, anders verhielten als sonst. Mutti war traurig und lieb, Vater ernst und lieb, Tante Fridel war auf ihrer Juchhé und Oma schaute an mir vorbei – wenn sie mich einmal anschaute, dann äußerst giftig. Wer sich natürlich nett wie immer zeigte, das war Tante Frida. Also saß ich häufig in ihrem Zimmer und machte Schularbeiten. Das baute mich ein klein wenig wieder auf, lenkte mich ab. Ich getraute mich gar nicht zu fragen, wann Opa denn nun endlich zurückkäme. So vergingen Wochen. Zufällig wurde ich Zeuge, wie Mutti sich mit ihrer Schwester unterhielt. „Ich habe dort angerufen und mir wurde gesagt, dass es ihm den Umständen entsprechend gut gehen würde.“
„Ist er denn gesund?“
„Offensichtlich ja.“
„Trotzdem habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen. Geht es dir nicht ähnlich?“
„Gretel, bist wieder mal viel zu weich. Es ging doch nicht anders und die Oma hat unbedingt Recht. Hier wäre noch etwas Schlimmes passiert. Wir mussten doch handeln!“ Nun war es heraus – ich wusste Bescheid. Mit der Aussage, dass Opa gesund sei, fiel es mir Achtjährigem wie Schuppen von den Augen. Jetzt wusste ich, in welchem Ausmaß ich und auch Lothar hintergangen worden waren, denn es wurde uns erzählt, dass er wegen einer Krankheit ins Krankenhaus müsste. Diesmal wurde ich nicht zerrig, heulte auch nicht – mein Schmerz war aber viel größer als zuvor und dies vor allem, weil ich zweifach belogen worden war. Es kam sogar so weit, dass ich mich abends im Bett hin und her wälzte und Mühe hatte, einzuschlafen. Im Geiste sah ich Opa und hörte von irgendjemand, dass er krank sei und dann wiederkäme. Ich sah seine weißen Pobacken, er schlummerte, konnte sich nicht wehren und wurde schmählich hintergangen. Die Spritze wurde rücksichtslos in seine weiße Pobacke hineingehämmert – mir tat der Opa wiederum unendlich leid. Noch nie hatte ich solche Empfindungen in mir gespürt. Ab jetzt war alles anders. Ich war nicht mehr der kleine Klausmann, den man hintergehen konnte, ohne dass ich es erkannte. Menschlich war ich von Mutti, Vater, Tante Friedel und Oma zutiefst enttäuscht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich gelebt, ohne mir tiefere Gedanken zu machen, ohne Fragen zu stellen. Übergangslos war ich von einem Moment in den nächsten gewechselt. Große Fragen hatte ich mir nie gestellt. Aber jetzt hatte ich Witterung aufgenommen, machte mich auf, meine Persönlichkeit zu finden. Die gleichen Gefühle, die ich damals als Junge auf dem Bauerngut hatte, verfolgen mich heute noch als Erwachsener. Wenn ich dieses Bild sehe, werde ich immer ganz niedergeschlagen, denn das war das Ende, das eindeutige Ende von Opas einigermaßen geordnetem Leben. Viel später – da war ich schon fünfzehn Jahre alt – erfuhr ich von meinen Eltern, dass Opa in ein Heim für Behinderte, wie sie es nannten, eingeliefert worden sei. Sie wollten mir auch erklären, weshalb dies notwendig geworden war. Entrüstet und beleidigt winkte ich nur ab. „Die Zusammenhänge sind mir schoooon bekannt.“ In meinem Berufsleben war ich zuletzt fast zwanzig Jahre als Bauunternehmer tätig. Da hatte meine Firma einen Auftrag erhalten, zwei Häuser an der Außenfassade in der Oberlausitz, im Krankenhaus Großschweidnitz, zu sanieren. Vom Auftraggeber wurde ich informiert, dass diese Gebäude als Irrenanstalten gebaut worden waren und noch in Funktion sind. Sie waren generell denkmalgeschützt und es gab sehr, sehr viele in Gesamtdeutschland. Dort erfuhr ich auch, dass die Patienten mittels Schocktherapie (Elektroschocks) behandelt werden. Ich fragte nach, weshalb dies erfolgen würde, und bekam von einem lustigen Menschen die flapsige Antwort: „Na, damit sich die Synapsen im Kopf, welche offensichtlich alle etwas verrückt sind, wieder ordnen!“ Ich konnte diese lustige Bemerkung nicht so heiter einordnen, da ich an unseren Opa denken musste und außerdem erfahren hatte, dass manche durch die stupide Behandlung in diesen Heimen erst verrückt gemacht wurden, obwohl sie einigermaßen normal hineingekommen waren. Nachdenklich und bedrückt dachte ich so für mich: Die bringen hier in der Irrenanstalt die Synapsen der Patienten in Unordnung, diese Schweine! Mein Onkel Heinel, mit dem ich in den letzten fünf Jahren seines Lebens (er wurde neunzig Jahre alt) im Briefverkehr stand und öfter telefonierte, wurde bei meinen Schilderungen über die Einlieferung seines Vaters unruhig und machte sich große Vorwürfe. „Weißt du, Klaus, ich habe mich viel zu wenig um meinen Vater gekümmert! Gib mir doch mal die Adresse und die Telefonnummer von Hochweitzschen!“ Allerdings musste ich meinen Onkel auf Folgendes hinweisen: „Onkel Heinel, der Opa ist aber ja nun schon lange tot und du kannst ihm jetzt kaum noch was Gutes tun!“ Ich schilderte ihm auch, dass mein Vater Opa einmal in dieser Anstalt besuchte. Dabei kam es zu folgendem Vorfall. Nachdem sie sich ein wenig unterhalten hatten, ging Opa mit seinem Kopf ganz nahe an meines Vaters Ohr und flüsterte aufgeregt: „Herbert, ich weiß genau, wo hier der Ausgang ist. Da können wir beide abhauen! Herbert, komm schnell, damit es ja niemand merkt!“ Als ich diese Bemerkung von Opa aus meines Vaters Mund hörte, kam wieder kurzzeitig die alte Stimmung und Empörung, die aber längst einer tiefen Traurigkeit gewichen war, da alles ja ohnehin keinen Sinn mehr hatte und Vergangenheit war, wieder in mir hoch. Selbstverständlich teilte ich auch meinem Onkel die letzten Sätze seines Vaters mit.
TRAURIGER ABSCHIED VOM BAUERNGUT
Onkel Heinel war mit seiner Familie bereits umgezogen, Tante Friedel mit ihrer ebenfalls – nun stand das Gleiche für uns an. Meine Eltern informierten mich, dass wir ins Mitteldorf umziehen würden. Ich nahm es zur Kenntnis. Noch heute wundere ich mich, wie gleichmütig, willig, ich solche Veränderungen als gottgegeben zur Kenntnis nahm. Aus heutiger Sicht war ja damit ein äußerst wichtiger Lebensabschnitt zu Ende gegangen. Als Baby war ich Städter in Chemnitz und wurde urplötzlich ein Dorflude auf einem Bauernhof mit völlig anderen Abläufen als in der Stadt. Ich lernte kennen, wie Tiere versorgt werden, wie man Milch gewinnt und diese an eine Molkerei abliefert, genauso, dass Hühner Eier legen, wie gesät, geerntet und weiterverarbeitet wird. Mit dem Einsatz der Kriegsgefangenen hatte ich auch begriffen, wie Menschen mit anderen umgehen und sie ausnutzen. Es war schon eine geballte Ladung an neuen Dingen, Wissen und Erfahrungen, die ich kennenlernen durfte. Das Wesentlichste war sicherlich die Erkenntnis, wie hart Menschen arbeiten müssen, um für sich und andere der Natur Lebensmittel abzugewinnen. Es war aber auch interessant und schön, diesen Prozess zu erleben. Ohne diese philosophischen und theatralischen Betrachtungen anzustellen, verabschiedete ich mich von unserem Bauerngut. Dies tat ich relativ nonchalant, da ich als Kind die Bedeutung dieses Abschnittes noch nicht ermessen konnte. Ich ging zu meiner Lieblingskuh Elsa, drückte ihren Kopf an den meinen, hörte ihr freundliches Brummen und Schnaufen und wischte mit