Streben nach der Erkenntnis. Klaus Eulenberger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Eulenberger
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783957449665
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sie an dem großen Schild mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand ergriff, vom Kopf zog und dann schräg nach vorn neigte. Er selbst beugte sich auch etwas vor und schaute die Frau während des Vorbeigehens mit dem Hut in der Hand die gesamte Zeit an. Als wir vorbei waren, setzte er seine Mütze wieder auf und es ging ein fürchterlicher Skandal los. „Klaus, was war denn das? Was stehst du denn hier rum! Stell dich mir gegenüber, schaue mir ins Gesicht und antworte! Wer war das?“ Ich war geschockt, stellte mich aber brav ihm gegenüber hin. „Luss moool, das war nur die Schabracken von unserer Schule, die alte Ziiiiiesche!“, entgegnete ich und spuckte empört zur Seite. Vater holte stoßartig Luft, stotterte vor Aufregung und stürzte Folgendes hervor: „Für dich ist das immer noch die Frau Schabracke, die du höflichst zu grüßen hast. Was macht sie denn in der Schule?“

      „Die ist Klassenlehrerin und gibt Deutsch und Mathe“, entgegnete ich. Vater holte noch immer schwer Luft. Ich hatte den Eindruck, dass ihn irgendetwas schwer getroffen hatte. Aber was? „Also – ich stelle fest, sie ist eine Lehrerin. Sie ist deine Lehrerin in Deutsch und Mathe, wie heißt das im Langtext?“

      „Demzufolge Mathematik.“

      „Also pass auf“, seine Schnappatmung war immer noch da, wurde aber geringer, „wenn du irgendjemand triffst, vor allem Vorgesetzte wie Lehrer, betrifft aber letztlich jedermann, hast du freundlich zu grüßen, deine Mütze abzunehmen und deutlich und laut „Guten Tag, Frau Schabracke“ zu sagen. Verstanden? Dabei haste dich leicht zu verneigen und beim Vorbeigehen zu ihr hinzuschauen! Du darfst erst wegschauen, wenn du vorbei bist! Außerdem – sächsisch kannst du mit deinen Kumpels reden. Es heißt Guten Tag und außerdem – gespuckt wird überhaupt nicht, noch dazu, wenn du mit deinem Vater oder mit einem Erwachsenen irgendwo lang spazierst“, dozierte er mit ziemlichem Ingrimm. Ich spürte, dass ihm vor Erregung fast die Stimme versagte.

      Auf der Stelle hatte ich den Kanal voll und war störrisch. Ohne ihn war das alles bisher ordentlich gelaufen. Ich konnte mit meinen Kumpels und Freunden tun und lassen, was ich wollte – Räuber und Gendarm spielen, mit dem Katapult schießen, mit Pfeil und Bogen, sogar mit Gewehren, konnte reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist, ob nun sächsisch oder nicht, war egal. Spucken durfte ich auch. Die Frage an meinen Vater war eigentlich, ob das alles bisher Gewesene falsch und verboten war. Es konnte doch nicht alles plötzlich anders sein. Früher wurde ich nie so angeschrien und angemeckert. Ich dachte grimmig für mich: „Wärest du doch dort geblieben, wo du hergekommen bist!“ Dann war plötzlich Stille – bei Vater und bei mir. Mit Sicherheit hatte er mein Mienenspiel verfolgt, wurde etwas unsicher und plötzlich ziemlich sanft im Gesichtsausdruck „Die Schabracken, äh, Verzeihung – nein, so was aber auch – also, die Frau Schabracke, kannst du wohl überhaupt nicht leiden?“ Ich verzog angewidert und schmerzhaft das Gesicht „Die zieht mich immer an dem einen Ohr nach oben aus der Bank und dabei verdreht sie das noch, die doofe Gans. Andere, aber auch vor allem sie, schlagen mit dem Rohrstock auf unsere Fingerspitzen – das tut übelst weh!“ Mich beruhigte, dass Vater jetzt offensichtlich Verständnis, zumindest ein wenig, für meine Situation, erkennen ließ. Er schaute jetzt so, wie ich mir das wünschte, nämlich mitfühlend. Als er allerdings hörte, wie die Schabracken mich am Ohr traktiert und wie mit dem Rohrstock ohne Rücksicht auf unser zarten Finger zugehauen wird, funkelten seine Augen, auf der Stirn bildete sich in der Mitte senkrecht nach unten ein unheimlich dickes Blutgefäß.

      Später erfuhr ich von Mama, dass sie sich immer ängstigt, wenn er diese Zornesader bekommt. Dieser Jähzorn richtete sich aber, Gott sei Dank, gegen die Praktiken der Schabracken. Damals wusste ich noch nicht, dass jetzt der wahre Eulenausdruck bei meinem Vater zu Tage kam. Mir fiel erst jetzt auf (wann früher hätte ich das auch feststellen können?), dass er ein ziemlich dunkler Typ ist – schwarze Haare, immer etwas gebräuntes Gesicht, braune Augen. Später, als ich dann seine Mutter Frida in Dresden kennen lernte, dämmerte mir, wer der Ursprung dieses Aussehens war, nämlich die Oma Eulenberger. Außerdem wurde mir später klar, was das bedeutete, wenn Mutti sagte, „Ich habe manchmal den Eindruck, Klaus, dass du in der Klinik vertauscht worden bist.“

      „Wieso denkst du so etwas Sonderbares?“

      „Na, eben deshalb, weil du eigentlich nichts von der Eulenfamilie geerbt hast. Aber mach dir nichts draus, Klaus, da hast du eben die Gene von mir.“ Mehr als einmal erwähnte Mama auch: „Du bist etwas zart, Klaus, eigentlich hättest du ein Mädchen werden müssen. Es wäre auch insgesamt besser gewesen.“ Außerdem kann ich mich noch ganz deutlich besinnen, dass Mutti in meiner Kindheit mehrfach zu mir sagte: „Wenn du jetzt schon ein richtiger Mann wärest, mein Typ wärest du nicht, Klaus. Eigentlich schade, dass du nicht so hübsch geworden bist.“ Ich machte mir aber darüber nie einen Kopf oder wäre gar beleidigt gewesen. Es interessierte mich einfach nicht. Feststellen musste ich aber, dass Mama später, als ich erwachsen war, mehrfach erstaunt sagte: „Du bist ein sehr hübscher junger Mann geworden, Klaus, zum Verlieben. Das hätte ich nie gedacht, wo du doch als Kind gar nichts in dieser Richtung geboten hast.“

      Bis auf Tante Friedel, die sich gut in das bäuerliche Geschehen einfügte, und eventuell noch Oma, war für alle anderen die Arbeit auf dem Hof hier ein Laienspieltheater. Bevor sich unsere für die landwirtschaftliche Arbeit offensichtlich ungeeignete Großfamilie auf dem Bauerngut auflöste, bekam sie sogar noch kurzfristig Zuwachs. Zusätzlich zu meinem Vater kam auch Onkel Herbert, Friedels Ehemann, in unsere Gemeinschaft. Sie schauten sich auf dem Gut um und halfen mit Rat und Tat da, wo es Not tat. Eigenartigerweise hatte mein Vater großes Interesse an den Schweinen gefunden. So schleppte er mit sichtlicher Freude die gedämpften Kartoffeln, mit Kleie und Milch versetzt, in den Schweinestall und rief schon beim Eintreten „Hey, hey, ihr Säue und Leckermäuler. Batsch, batsch, es gibt wunderbares Feinschmeckerfutter.“ Dann schüttete er sein Gourmetessen in die bereitstehenden Tröge und ergötzte sich königlich über das Geschmatze, Gerülpse und Geschnorchel der Säue.

      Bei ihrem Antrittsbesuch besuchten die beiden Neuen auch Tante Erika in ihrem Zimmer. „Welches Kind schreit denn so, Erika?“, erkundigten sie sich. „Macht euch nur keinen Kopf – das ist mein Sohn Helmut. So einen Schreier hatte ich noch nie. Na ja, da wird die Lunge kräftig.“ Die beiden nahmen es zur Kenntnis, sprachen noch über dies und jenes mit Erika und verabschiedeten sich dann. Ihnen ließ aber das erbärmliche Schreien des kleinen Kerlchens keine Ruhe. Spontan gingen beide in das Weinzimmer und sahen, wie sich das Baby mit hochrotem Kopf hin und her wälzte, heulte und winselte. Die beiden waren sich sofort einig. „Komm, Herbert, wir wickeln es aus!“

      „Ist doch klar, Herbert.“ Sie wickelten und wickelten – der Kleine schaute aufgeschreckt, aber interessiert zu. Das Wimmern nahm ab. Das Baby lag in der eigenen Kacke und da das offensichtlich noch nicht genügte, war auch schöne, gelbe Pinke dabei. Von beiden Ausscheidungen war die zarte Babyhaut knallrot und schon richtig zerfressen. „Das kann ja wohl nicht wahr sein, Herbert!“ Wer das zu wem sagte, war absolut unwichtig, denn erstens waren sie sich in der Sache einig und zweitens hießen sie bekanntermaßen beide Herbert. „Wie kann eine Mutter so herzlos sein – es ist nicht zu begreifen!“ Die beiden entfernten die aggressiven Medien inklusive Windel, säuberten, wuschen nach, trockneten und schauten sich fragend an. „Hier muss irgendwie Creme oder etwas anderes zur Heilung darauf!“

      „Ist auch meine Meinung!“ Einer von den beiden Herberts strahlte und rief laut: „Ich habe hier etwas gefunden und zwar Kinderpuder für den zarten Popo – haben wir ein Glück! Ich kenne nämlich die alte Grundregel, Herbert, die da lautet: Auf eine feuchte Wunde kommt trockenes Puder – auf eine trockene Wunde Creme.“ Nun kam die größte Hilfsaktion. Sie puderten und zuckerten mehrfach. Der kleine Bullermann wurde zwischen Daumen und Zeigefinger sanft hochgehoben und das komplette, kleine Nachwuchsgerät wurde, links und rechts, unten und oben, genauso sorgfältig behandelt wie das übrige zarte Hinterviertel des Babys. Während dieser Aktion hatte das Flehen des zarten Helmut längst aufgehört und war regem Interesse gewichen. Es war schon interessant, wie zwei erwachsene Männer, es waren schließlich sogar Väter, sich so um den kleinsten Nachwuchs kümmerten. Als die Puderaktion mitten in ihrer stärksten Phase war und eben die Aktion mit dem sanften Hochheben zwischen Daumen und Zeigefinger