Die an Wochenenden stattfindenden Ausflüge in die Umgebung unserer Stadt unterstützten unseren Hang nach Abenteuer und Erkundung der uns erreichbaren Teile der Welt, in die wir hineingeboren waren. Ob man diese Unternehmungen nun Spaziergang, Wanderung oder, wie im Jungvolk üblich, Fahrt nannte, war uns damals bestimmt gleichgültig. Nicht gleichgültig wurde uns jedoch immer mehr, ob wir mit dabei sein konnten oder nicht. Wir zogen in Gruppen von 10 bis 15 Jungen bei jedem Wetter mit unserem bunten Wimpel, einem Aluminiumkessel, den wir „Hordentopf“ nannten, sowie mit einem Vorrat an Suppenwürfeln , Erbswürsten und Puddingpulver ausgerüstet, über die Straßen unseres Heimatkreises. Was wir erlebten, kam unseren Vorstellungen vom Abenteuer nahe. Wir rasteten an einem Teich oder in einer Sandgrube, sammelten Brennholz, lernten eine Feuerstelle zum Kochen herzurichten und holten Wasser. Manche kleinen Gewässer führten seinerzeit noch klares und im abgekochten Zustand genießbares Wasser. Wenn es kochte, kamen die von zu Hause mitgebrachten Suppenwürfel oder Erbswürste in den Kessel. Manchmal war auch geplant Nudeln zu kochen. Da spielte es keine Rolle, ob jemand versehentlich Makkaroni mitgebracht hatte. Alles gelangte in den Hordentopf und was da wieder herauskam, hatte zu schmecken. Nudeln waren meistens versalzen aber niemand vergaß seinen Kochgeschirrdeckel zum Füllen hinzuhalten, wenn Hardchen die große Kelle schwang. Die Erwachsenen nannten uns den „Puddingzug“, weil bei der Vorbereitung von Fahrten fast immer zum Mitbringen von Puddingpulver aufgefordert wurde. In einem „Spezialtopf“ wurde ein Pudding von undefinierbarer Farbe gekocht, den wir noch warm als Nachspeise verdrückten. Darauf freuten wir uns jedes Mal ganz besonders. So gesehen, hatten wir ein primitives Essvergnügen. Man darf aber nicht vergessen, dass wir nicht so verwöhnt waren wie die uns nachfolgende Generation. Zum Frühstück oder bei der Rast war es üblich, dass nicht jeder sein mitgebrachtes belegtes Brot aß, sondern es wurden alle Brote auf eine Zeltplane gelegt. Davon verteilte Hardchen dann reihum an die im Kreis sitzenden Jungen. Ich muss gestehen, dass ich ganz schön bedeppert war, als ich die gut belegten Brote meiner Mutter zum ersten Mal gegen einen ziemlich dürren Brotkanten vertauscht sah. Solcherart lernten wir ein Verhalten in der Gemeinschaft, das wir mehr und mehr als etwas Selbstverständliches ansahen. Schließlich entwickelten wir sogar mit der Zeit ein ausgesprochenes Misstrauen solchen Jungen gegenüber, die bei jeder Gelegenheit zuerst an sich selbst dachten und ihren persönlichen Vorteil unter allen Umständen zu wahren suchten. „Kameradschaft“ wurde für uns allmählich zu einem festen Begriff für lobenswertes Verhalten in der Gemeinschaft. Was wir nicht bedachten: Kameradschaft konnte Menschenmassen eng zusammenschweißen, sie wurde zur Führung großer Menschenmassen gebraucht und sie sollte zur Verführung dieser Jugend missbraucht werden. Das wusste vermutlich auch unser selbstloser damaliger Jungzugführer nicht. Hardchen lebte uns einfach vor, was er unter Kameradschaft verstand. Wenn wir bei nasskaltem Regen auf der Landstraße wieder nach Hause zogen, dann kam es nicht selten vor, dass er einen der Schwächsten auf seinen Schultern trug. War jemandem von uns ein Missgeschick passiert - Hardchen war zur Stelle, um zu helfen. Das übertrug sich mit der Zeit auf jeden von uns. Rückschauend darf ich gestehen, ich empfand allmählich in dieser Gemeinschaft eine ziemliche Geborgenheit. Ich konnte noch nicht unterscheiden zwischen individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, die sich mit dem Fortschreiten des Erkenntnisprozesses entfalten und der Züchtung von Gruppenmerkmalen, die bestimmten Zwecken dienen sollen.
In dieser Zeit begann eine neue Phase meiner Kindheit, die ich als die uniformierte bezeichnen möchte. Zunächst noch in schwarzer Hose und einem neuwaschenen weißen Hemd, auf das ein schwarzes Halstuch mit einem geflochtenen Lederknoten gebunden war, begab ich mich zweimal wöchentlich in die buntschillernde Welt des Deutschen Jungvolks. Während ich sie zu entdecken und zu erobern trachtete, ergriff sie stückweise von mir selbst Besitz.
Die Absichten der neuen Machthaber waren aus heutiger Sicht leicht zu durchschauen. Leider kann man das immer nur im Nachhinein mit größter Bestimmtheit sagen. Den Zeitgenossen fällt es jedes Mal schwer, die Lüge von der Wahrheit analysenrein zu trennen. Ich möchte dazu kommentarlos wieder einige Zitate aus der Altenburger Landeszeitung einfügen. Dort war zu lesen:
Montag, 24. April 1933
Der Thüringer Lehrerverein gleichgeschaltet.
Mittwoch, 3. Mai 1933
Die Gleichschaltung der Gewerkschaften.
Freitag 23. Juni 1933
SPD verboten. Aufbau der Reichsjugendorganisation.
Montag, 3. Juli 1933
Auflösung der Zentrumspartei in Altenburg.
Dienstag, 4. Juli 1933
Der Jungdeutsche Orden in Thüringen verboten, Katholische Verbände aufgelöst.
Freitag, 14. Juli 1933
In vier Monaten 1,7 Millionen von den Fesseln der Arbeitslosigkeit befreit.
Sonnabend, 15. Juli 1933
Alle Erziehungsorganisationen Thüringens im NS-Lehrerbund.
Montag, 24. Juli 1933
Hitlergruß in Thüringen … Verordnung des Thüringischen Staatsministeriums: Sämtliche Beamten, Angestellten und Arbeiter von Behörden grüßen im Dienst durch Erheben des rechten Armes.
Eine unaufhaltsame Entwicklung zur Vereinheitlichung der Organisierung des öffentlichen Lebens und der Denkweise überzog das Land. Diejenigen, die uns kleine Pimpfe führten, schienen wirklich zu wissen, wie alles zu aller Zufriedenheit laufen musste. Wir selbst wurden Zeuge davon, dass sich immer mehr Menschen dieser großen Welle der sogenannten „nationalen Erhebung“ anscheinend freiwillig unterwarfen. Eines Tages stand ich in Reih und Glied auf dem Sportplatz der „Wilhelm-Frick-Schule“ angetreten, um die Eingliederung der Jungmannen des Scharnhorstbundes in das Deutsche Jungvolk mitzuerleben. In meiner Erinnerung an die damalige Situation sehe ich uns in großer Zahl zu einem Appell angetreten. Es war wohl das gesamte damalige Altenburger Jungvolk dort aufmarschiert. Vom Rand der Rasenfläche, etwa aus Richtung der Herzogin-Agnes-Gedächtniskirche, zogen in guter Ordnung die Jungen von der Scharnhorstjugend schweigend hinter ihren Fahnen auf den Platz. Die Situation hatte schon etwas Beklemmendes an sich. Das konnte auch ein Junge meines damaligen Alters empfinden. Schließlich gaben diese Jungs ihre bisherige