Ostern 1933 beendete ich mein zweites Schuljahr. Den täglichen Gang zur Schule nahm ich als einen Auftrag hin, der mir von den Erwachsenen zugewiesen und deshalb nicht zu umgehen war. In der Klasse saßen wir Schüler so lange still wie der Lehrer im Raum war. An seiner Autorität zweifelten wir nicht. Es war uns bewusst gemacht worden, dass Lehrer zu mächtig sind als dass man sich ihren Forderungen widersetzen durfte. Der Rohrstock gehörte seinerzeit noch zu den Arbeitsgeräten des Pädagogen. Er wurde erforderlichenfalls auch eingesetzt. Wie oft sich ein solches Erfordernis ergab, war von unserem Verhalten aber auch von der Mentalität des Lehrers abhängig. Mit diesem Instrument klassischer Knabenerziehung hatte ich schon im ersten Schuljahr nähere Bekanntschaft machen dürfen. Ursache war mein noch unterentwickeltes Bedürfnis zum Stillsitzen und das Bedürfnis des Klassenlehrers, von Beginn an seine Autorität unantastbar zu machen. Dieser Lehrer, den ich in der Folgezeit sehr schätzen lernte, schaffte eben einfach klare Beziehungen zwischen sich und seiner Klasse, indem er rasch und unmissverständlich zur Tat schritt. Aus meiner Kindheit habe ich noch immer den hierzu passenden Sinnspruch parat: „Was ein Häkchen werden will, das krümmt sich beizeiten.“ Ich konnte zwar nie begreifen, wozu ich ein Häkchen werden musste. Damals mochte ich wohl gedacht haben, dass dies die Erwachsenen schon wüssten, zumal selbst alte Leute diesen Spruch aufsagten. In dieser Hinsicht waren Eltern und Lehrer durchaus einer Meinung. Auch mein Vater huldigte dieser damals gängigen Erziehungsmethode, was bei seiner Neigung zum Jähzorn für mich manchmal sehr unangenehm werden konnte.
Klasse 1a der Nordschule in Altenburg; Foto: 1931
3. Die ersten Schuljahre
In unserer Schule umfasste mein Jahrgang etwa 100 bis 120 Kinder. Sie waren auf je eine Klasse für Jungen und eine für Mädchen aufgeteilt. Das restliche Drittel musste in einer gemischten Klasse unterrichtet werden. Ich befand mich in Klasse a, in der ausschließlichen Gesellschaft von Jungen. Unsere Ausrüstung bestand im ersten Schuljahr vor allem aus einer Schiefertafel, Schieferstiften zum Schreiben und einer Schwammdose, in der sich stets ein gut angefeuchteter Gummischwamm zu befinden hatte. Das Stillsitzen während des Unterrichts lernten wir ja einigermaßen schnell. Dagegen wurde das Kratzen der Buchstaben und Zahlen auf die Schiefertafeln anfangs recht beschwerlich für mich. Im zweiten Jahr verließen wir zum Glück diese steinzeitliche Methode und schrieben mit Bleistiften in richtige Schreibhefte. Am meisten gefielen mir die Fächer Lesen, Zeichnen und Turnen. Alles Übrige erforderte fleißiges Üben, wovon ich nicht viel hielt. Ich sah nicht ein, dass man von seiner Freizeit allzu viel für eine solche Dressur opfern sollte. Als größtes Übel empfand ich das sogenannte „Kleine Einmaleins“. Es gelangte vermutlich in der dritten Klasse auf den Unterrichtsplan, ohne dass mir die Nutzanwendung klargeworden war. Es ist ja bis heute so geblieben: Wenn Kinder etwas nicht einsehen können, dann stemmen sie sich dagegen. Meinen inneren Widerstand überwand mein Vater durch die einfache Aufforderung zum täglichen Üben. Das wurde bei jeder sich bietenden Gelegenheit durch Abfragen einer sogenannten „Reihe“ kontrolliert und zog bei Nichterfüllung der Norm Spielverbot außer Haus nach sich. Letzteres nannte man damals „Stubenarrest“. Es stellte sich alsbald der gewollte Erfolg auch ohne meine tiefere Einsicht in den Sinn der Sache ein. Zu meinem Besten hatte ich einen notwendigen Fortschritt gemacht. Man wird vermutlich über Methoden der Erziehung noch mancherlei bedenken müssen. Eines steht für mich heute fest, dass nämlich der den Deutschen meiner Generation nachgesagte unbedingte Gehorsam gegenüber der Obrigkeit auch von einer solchen Art der Erziehung herrührt. Kinder, die autoritär erzogen werden und nachträglich die für sie positiven Ergebnisse eines vormals ausgeübten Zwanges feststellen können, sind im Erwachsenenalter leichter geneigt die gute Absicht auch hinter den Härten einer staatlichen Obrigkeit zu vermuten.
Meine Mitschüler in der Volksschule kamen ebenso wie ich aus einfachen Verhältnissen. Wir hatten jedoch auch Kinder aus sehr armen Elternhäusern bei uns. Sie erschienen ohne Frühstück in der Schule und liefen fast das ganze Jahr über barfuß. Es betraf dies etwa drei bis vier Jungen. Als ich davon zu Hause erzählte, gab mir meine Mutter öfter ein doppeltes Frühstück mit, das ich nicht lange anbieten musste, um es an den Mann zu bringen. Unser Klassenraum mit seinen drei Bankreihen, deren Schülerpulte mit Klappsitzen fest verbunden und unverrückbar auf eiserne Schienen aufgeschoben waren, machte einen sehr nüchternen Eindruck. Deshalb durften wir ihn in der Adventszeit mit Tannengrün und selbstgebastelten Papierketten ausschmücken. An einer Seitenwand prangte das ganze Jahr über ein Schild mit einer Art Leitspruch. Er drang mir während der Dauer meiner vier Volksschuljahre so unausrottbar in das Gedächtnis, dass ich ihn noch jetzt wortwörtlich aufsagen kann. Er lautete: „Wer behauptet Deutschland sei am Kriege schuld, lügt. Und diese Lüge ist die Wurzel unserer Not!“
Vielleicht gelang mir das zwanghafte Aufsagen dieser Zeilen schon zu einer Zeit, als ich gerade Lesen gelernt aber den Sinn derselben noch nicht begreifen konnte. Lange Zeit stand das Fach Zeichnen auf Platz eins unter meinen Lieblingsfächern. So „malte“ ich mit großer Geduld auch zu Hause, ohne dass eine Aufgabenstellung des Lehrers dies erforderte. Es regte dazu schon ein Blick aus dem Fenster an. Da ich, wie schon gesagt, vom Wohnzimmer aus das Bahngelände einsehen konnte, brachte ich anfangs serienweise Eisenbahnzüge zu Papier. Bald interessierte ich mich auch für die Häuser und Gärten, die man von unserem Küchenfenster aus überschaute. Es entstanden neue Bildserien mit Häusern, die teilweise mit Fachwerk verziert waren. Ich machte mir gewissermaßen zeichnend meine nähere Umgebung zu Eigen und fühlte ein wohliges Vertrautsein mit