Martin Hübner, damals verantwortlicher Jurist in der BIG: „Wir erkannten, dass es nicht den geringsten Spielraum für Interpretationen gab!“ Sensibilisiert durch Lassing und die Situation in Innsbruck, hörte man gleichsam die Zeitbombe ticken.
Erste Aufgabe: Es muss so schnell wie möglich jemand gefunden werden, der in der Lage ist, den Fragenkatalog für die dringend zu erstellenden Erstgutachten betreffend den Zustand der Stollenanlagen zu formulieren, und der dann auch noch die darauf basierenden „Über-Gutachten“ zur Bewertung des daraus entspringenden Gefahrenpotenzials erstellen kann.
Eine große Sitzung mit Berg- und Tiefbau-Fachleuten aus ganz Österreich wird anberaumt, allmählich beginnt sich eine mögliche Vorgangsweise abzuzeichnen und es wird vor allem der Mann gefunden, der die Probleme kompetent zu formulieren weiß: Der Geologe Leopold Weber von der Montanbehörde wird nach ersten Gesprächen zum Generalkonsulenten bestellt und im Mai 2001 beauftragt, die Stollen zu befahren und geologisch-geotechnische Gutachten zum Grad der Gefährdung vorzulegen. Weber, ein international anerkannter Bergbaufachmann, der Letzte, der am 17. Juli 1998 die Grube von Lassing vor der Katastrophe noch lebend verlassen konnte, kommt durch Vermittlung von Gerhard Peintinger im Wirtschaftsministerium zur BIG. Der gebürtige Wiener, Jahrgang 1948, hat 1974 mit einer Arbeit über Das Alter der Sideritvererzung im Westteil der Gollrader Bucht promoviert, ist von 1973 bis 1979 Assistent an der Universität Wien und wird danach Geologe bei der Obersten Bergbehörde im Ministerium für Handel, Gewerbe und Industrie. 1986 übernimmt er hier die Leitung der Abteilung Geowissenschaften und Geotechnik (heute Abteilung Rohstoffe). Mit einem Gutachten für die Finanzprokuratur über den Zustand der Innsbrucker Stollen sowie mit einer zweiten Expertise für die Bundesgebäudeverwaltung Salzburg betreffend den oben erwähnten Grill-Stollen in Hallein hat er sich als kenntnisreicher Spezialist für Stollenfragen einen Namen gemacht; mit Elan stürzt er sich auf die neue Aufgabe – auch für ihn eine absolute Herausforderung. Um die Situation von damals zu vergegenwärtigen, bringt Leopold Weber heute einen drastischen Vergleich: Man habe sich in Frühjahr und Sommer 2001 im Stollen-Team der BIG wie nach einem Flugzeugabsturz gefühlt. Überall sieht man sich mit zahlreichen Verletzten konfrontiert, weiß aber nicht um den Grad der Verletzung, sprich das Ausmaß des Sicherheitsrisikos. Denn Stollen ist nicht gleich Stollen: Jedes Stollensystem, so erklärt uns der erfahrene Bergmann, hat seine eigene Dynamik, seine ganz spezielle Charakteristik. Vor allem ist es der Zweck, der das Erscheinungsbild des Stollens geprägt hat: Er bestimmt die Höhe eines Vortriebs, die Art des Ausbaus mit Holz oder Beton. Als Tunnel gelten übrigens Röhren mit einem Querschnitt größer als 20 Quadratmeter, alles, was Querschnitte kleiner als 20 Quadratmeter aufweist, wird zu Recht als „Stollen“ bezeichnet. Und Leopold Weber findet wohl auch das richtige Wort, wenn es um die Art des Zugangs zu einem dieser lost places geht: Er spricht von „respektvoller“ Sicherung der Stollenanlagen.
„Lost place“ in der Unterwelt von Klagenfurt: der Miklinstollen.
In einem ersten Schritt erarbeitet er daher zunächst ein standardisiertes „Pflichtenheft“ für das anstehende Evaluierungsverfahren, das im Juni 2001 vorliegt. Darin entwickelt er insgesamt vier Kategorien zur „Prioritätenreihung“ des Gefährdungsgrades:
Priorität 1: „Die Stollenröhre ist ungenügend oder nicht gesichert, das Gebirge ist nicht standfest. Sicherungsarbeiten sind notwendig. (…) Auf Grund der individuellen Befundung ist Gefahr in Verzug nicht auszuschließen.“
Priorität 2: Stollenzustand wie bei Priorität 1, aufgrund der „individuellen Befundung des Stollensystems ist Gefahr in Verzug jedoch nicht gegeben“.
Priorität 3: „Das Gebirge ist ausreichend standfest oder durch Ausbau dauerhaft gesichert. Sicherungsarbeiten sind nur in geringem Umfang oder gar nicht notwendig. Regelmäßige (z. B. jährliche) Kontrollbefahrungen sind jedoch notwendig.“
Priorität 4: „Nicht überbaute Stollenobjekte, keine Nutzung der Geländeoberfläche, standfestes Gebirge. Mit Ausnahme der (allfälligen) Anbringung von Absperrgittern oder Gittertüren oder einer anderen geeigneten Mundlochsicherung sind keine weiteren Sicherungsarbeiten notwendig. Ausschluss von Tagbrüchen, keine erkennbaren Gefahren, keine weiteren Kontrollbefahrungen notwendig.“
„Sicherungsbedürftig“ sind, so Webers klares Resümee, „jene Stollen- oder Streckenabschnitte von Stollenobjekten“, die „mit Priorität 1 oder Priorität 2 behaftet sind“.
Aufgrund der Vielzahl der Stollenanlagen kommt man im Juli 2001 mit Leopold Weber überein, insgesamt sechs Sachverständige für diese „systematisierte Erstevaluierung“ zu benennen – zusammengefasst in Bundesländergruppen und ausgestattet mit entsprechenden Vollmachten der BIG, übernehmen diese Aufgabe sechs Zivilingenieure, allesamt Absolventen des Instituts für Markscheidewesen, Bergschadenkunde und Geophysik der Montanuniversität Leoben. Die Erhebungsergebnisse der sechs Fachleute werden, so der Plan, durch abschließende gutachterliche Stellungnahmen von Leopold Weber ergänzt, der darin auch die jeweilige Priorität benennt und eventuelle Sicherungsmaßnahmen empfiehlt. Wichtige erste Schritte zur Risikoverminderung sollen unkompliziert und rasch erfolgen: Die Zivilingenieure sind ermächtigt, Firmen vor Ort mit dem Anbringen von „wirksamen Verschlüssen“ der Mundlöcher zu beauftragen, damit soll verhindert werden, dass neugierige Jugendliche die Stollen weiter als Abenteuerspielplätze nutzen.
Die Arbeit beginnt also an allen Ecken und Enden. Zu bestimmten Objekte versuchen Karl Lehner und seine Gutachter, von Gemeinden und Bezirkshauptmannschaften „Bestandsunterlagen“ wie alte Baupläne und Akten zu bekommen, und lernen daraus vor allem eines: Gemeindeämter sind keine Archive. Ratloses Achselzucken ist eine häufige Antwort; Originalunterlagen aus den letzten Kriegsjahren fehlen in vielen Fällen überhaupt; findet man tatsächlich noch einen Plan, so handelt es sich meist um einen Projektierungsplan, der mit dem tatsächlichen Stand der Ausführung eines Stollens nur mehr wenig gemeinsam hat. Bleibt noch die Hoffnung, von noch lebenden „Zeitzeugen“ handfeste Informationen und Hinweise oder auch nur Anhaltspunkte zu erhalten – das ist manchmal tatsächlich der Fall, manchmal lässt die Präzision der Erinnerung zu wünschen übrig: Erinnertes und Realität vor Ort passen nach knapp sechs Jahrzehnten nicht mehr exakt zusammen.
Unterstützung kommt von Martin Hübner. „Wir gewannen sehr bald den Eindruck“, so erzählt er heute, „dass es in den Ministerien teilweise zu einer Art Überreaktion gekommen war, was sich darin manifestierte, dass so gut wie jedes unterirdische Gebilde, von dem man wusste – oder vielleicht nur annahm –, dass Menschen während des Zweiten Weltkriegs darin Zuflucht gesucht haben, in die Liste aufgenommen wurde. So gelangte einerseits auch eine Vielzahl von Stollen oder stollenähnlichen Gebilden in das Gesetz, die schon lange Zeit vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, ja selbst vor dem, Anschluss‘, existierten. Das betraf z. B. vier ehemalige Bergwerksstollen im Großraum Waidhofen an der Ybbs, einen weiteren in Hallein. Andererseits wurden auch ehemalige Stollen einer Rüstungsproduktion, die auf dem Areal eines dem damaligem Eigentümer im Jahr 1943 entzogenen Zementwerkes in Ebensee gegraben worden waren, mit in das Gesetz aufgenommen, obwohl der entsprechende Betrieb schon im Jahr 1951 im Rahmen eines Rückstellungsvergleiches samt den errichteten Stollen an den früheren Eigentümer zurückgegeben wurde und dieses Zementwerk auch heute noch betrieben wird und im Eigentum