Doppelriegeltür in einem Linzer Luftschutzkeller.
Die BIG, ein Mann und 290 Stollen
Am 4. Dezember 2000 passierte das „Bundesimmobiliengesetz“ mit den Stimmen der Koalitionspartner ÖVP und FPÖ das Parlament. Wirtschaftsminister Martin Bartenstein sprach euphorisch von einem „Stück mehr Markt und Kostenwahrheit“, SPÖ-Wohnbausprecherin Doris Bures kritisierte es als „bestenfalls halbherzige Reform“ und Gabriele Moser von den Grünen befürchtete weitere Privatisierungsschritte.
Beschlossen hatten die Abgeordneten ein 2,4 Milliarden Euro schweres Paket, das die bereits 1992 gegründete, bisher jedoch nur mit Fruchtgenussrechten ausgestattete Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) zu einem wahren Immobilienriesen, dem größten Immobilieneigentümer Österreichs, wachsen ließ: Etwa 5.000 Häuser und Grundstücke, Büro- und Amtsgebäude, Schulen, Universitäten, Wohnungen und „Spezialimmobilien“ wie Kirchen, Schlösser oder eben Stollen wechselten aus dem Eigentum der Republik in jenes der BIG. Abgewickelt wurde das Geschäft in vier Tranchen, finanziert über die Begebung von Anleihen am internationalen Kapitalmarkt. Das Ziel: eine marktorientierte, erfolgreiche Bewirtschaftung dieser Immobilien, die sowohl den Verkauf nicht mehr benötigter Liegenschaften als auch die Neuerrichtung von Bundesgebäuden vorsieht, vor allem von Schulen, Universitäten und Bürogebäuden – „Raum für die Zukunft“ ist die ambitionierte Devise.
Um diese Vorgänge weiß auch BIG-Mitarbeiter Karl Lehner bestens Bescheid, als er am 8. Jänner 2001 in sein Büro in der Neulinggasse 29 im 3. Wiener Gemeindebezirk kommt. Es ist Montag, der Weihnachtsurlaub ist vorbei und der erfahrene Techniker und „Hochbauer“ ist gespannt, was da Neues auf ihn zukommt. Die Unterlagen liegen bereits auf seinem Schreibtisch – eine 35 A4-Seiten umfassende Liste mit der harmlosen Ziffer „A.1.2“ –, die Liste der Stollenanlagen, die mit Stichtag 1. Jänner 2001 als Superädifikate ins Eigentum der BIG wechselten: 290 Objekte, fein säuberlich nach Bundesländern aufgelistet, das Danaergeschenk der Kollegen aus dem Wirtschaftsministerium. Karl Lehner traut seinen Augen nicht: Von Stollen war in den Gesprächen vor Weihnachten nie die Rede gewesen, die Überraschung ist groß. Was nun? Karl Lehner, seit 1971 in der Bundesbaudirektion Wien und seit 1996 in der BIG tätig, ist klassischer „Hochbauer“, sein Spezialgebiet die Instandhaltung von Bauwerken. Und er ist ein Einzelkämpfer, der sich plötzlich 290 Stollen gegenübersieht – mysteriösen unterirdischen Objekten, die, er ahnt es noch nicht, sein Berufsleben in den nächsten zehn Jahren bestimmen werden.
Karl Lehner, Leiter, gleichzeitig aber auch einziger Mitarbeiter der „Abteilung Stollen“ in der BIG, beginnt die Liste zu studieren. Auf den ersten Blick bietet sich ihm eine bunte Palette quer über Österreich: vom Luftschutzstollen in der Mizzi-Langer-Wand in Wien-Rodaun bis zum Stollen unter dem Kloster Riedenburg in Bregenz, von einer Stollenanlage in Neusiedl/Zaya bis zum Luftschutzraum unter der Klosterruine Arnoldstein. Es ist eine faszinierende Mischung: vom klassischen Luftschutzbau zum alten Bergwerksstollen, von der ehemaligen unterirdischen Waffenschmiede bis zum Bunker. Unter dieser großen Anzahl von Stollenanlagen befinden sich auch einige, die eindeutig nicht im Besitz des Bundes sind, wie z. B. der bei Roggendorf in der Nähe von Melk für das NS-Geheimprojekt „Quarz“ errichtete unterirdische Komplex oder der in privater Hand befindliche Wilhelm-Erb-Stollen in Schwaz.
Noch verbindet BIG-Underground-Chef Karl Lehner mit den vorliegenden dürren Daten keine konkreten Bilder und Vorstellungen, ja, die tatsächliche Dimension des Problems ist unklar, denn es fehlt an wichtigen Basis-Informationen: Wo befinden sich die Eingänge zu diesen Anlagen? Wer sind die Ansprechpartner, gibt es überhaupt welche? Und vor allem bewegt eine Frage: Wie ist der Erhaltungszustand dieser Anlagen und was gilt es zu tun? Wo ist bereits Feuer am Dach? Auch er weiß, dass nach dem Grubenunglück von Lassing am 17. Juli 1998 die Welt des österreichischen Bergwesens eine andere geworden ist. Eine neue Sensibilität hat Einzug gehalten: genauere Dokumentation, exakte Information sind notwendig geworden, vor allem aber eine zuverlässige Einschätzung des Sicherheitsrisikos – die Oberlieger wollen ruhig schlafen können.
Stollen in der Mizzi-Langer-Wand in Wien-Rodaun.
Erbaut für das Geheimprojekt „Quarz“: der Stollenkomplex bei Loosdorf.
Angesichts der gewaltigen Immobilienfülle, die es zu bewirtschaften gilt, sind die Stollen für die BIG zwangsläufig nur ein Randthema – allerdings eines, wie sich rasch zeigen wird, mit Potenzial für Ärger und hohe Kosten. Für Karl Lehner, den „Ein-Mann-Betrieb Stollen“, beginnt mit dem Jahreswechsel 2000/2001 jedoch vorerst ein Abenteuer, eine Entdeckungsreise in unterirdische Welten, von deren Vielfalt und Ausdehnung, von deren dramatischer Geschichte und schicksalsschwerer Bedeutung für Zehntausende von Menschen er an diesem Anfangspunkt noch kaum etwas ahnt. Das Auffallende an der wie erwähnt in aller Eile erstellten Liste ist, dass sie gleichsam klinisch frei von Begleitinformation ist – da gibt es keinerlei Hinweise auf die historische Bedeutung einer Stollenanlage, ihr Status im Rahmen der NS-Luftschutzbauten bzw. der Rüstungsindustrie verbirgt sich hinter nüchternen Grundstücksnummern und Einlagezahlen und selbst diese sind nicht immer verlässlich: Da sind inzwischen Grundstücke zusammengelegt oder geteilt worden, Änderungen bei den Katastralgemeinden nicht berücksichtigt. Nicht selten wird daher die bloße Lokalisierung eines Stollens zur Herausforderung für das detektivische Gespür von Projektleiter Karl Lehner und seinen Helfern. Die Stollen sind wie erwähnt für ihn absolutes Neuland – ein Aufgabenbereich, der ihn nun auch unter Tag beschäftigen wird. Einer der ersten Schritte: sich vertraut machen mit dem traditionellen Wortschatz des Bergbaus. So nennt sich der Eingang zu einem Stollen „Mundloch“, die unterirdischen Röhren werden nicht gegraben, sondern „aufgefahren“, man begeht Stollen auch nicht, sondern „befährt“ sie, und wenn man am Ende eines Stollens angekommen ist, steht man vor seiner „Ortsbrust“; man blickt nicht zur Decke, sondern zur „Firste“; die Stollenwand nennt sich gar „Ulme“; „Überlagerung“ bezeichnet die Stärke des Gebirges über dem Stollen. Karl Lehner lernt schnell, bald ist er mit diesem Vokabular auf Du und Du.
Kein Spielraum für Interpretationen