Georgetown, 26.August 1991
Lieber Herr Dr. Senf, wir waren einige Zeit auf Cape Breton, einer wunderbaren Insel, die zur Provinz Nova Scotia gehört. Als wir zurück kamen, wartete Ihr langer Brief vom 28. Juni auf uns, mit allen Beilagen. Unterdessen traf auch Ihre Karte aus Ochsenfurt bei uns ein. Ich danke Ihnen sehr herzlich. Nun haben wir hier einen Streik der Post und ich weiß nicht, wann dieser Brief abgehen wird. Ich will die Zeit nutzen, etwas ausführlicher auf Ihren Brief einzugehen.
Wir bekommen jede Woche die Hamburger Wochenzeitschrift „Die Zeit“, meiner Ansicht nach die beste aller westdeutschen Zeitungen. Es gibt davon eine nordamerikanische Ausgabe, die wir abonniert haben. Die hält uns auf dem Laufenden über die Ereignisse in der früheren DDR. So können wir uns ein Bild machen von den unsagbaren Schwierigkeiten, unter denen Sie jetzt leben müssen. Als Verantwortlicher für Gesundheit und Soziales waren Sie ganz sicherlich nicht zu beneiden und sind nun sicherlich froh, in Chemnitz beginnen zu können. Die Lage ist mit den ersten Nachkriegsjahren im Westen nicht zu vergleichen. Damals waren alle Länder Europas am Nullpunkt, diesmal muss das ausgepowerte Osteuropa auf den wirtschaftlichen Stand Westeuropas angehoben werden. Doch setzt die sogenannte freie Marktwirtschaft ein politisches Rahmenwerk voraus, das bisher in Osteuropa noch nicht oder nur in Ansätzen besteht. So wunderbar ist die Konsumwirtschaft aber auch nicht, dass man dafür alles und jedes opfern sollte. Sie bringt zahllose Waren, nötige und unnötige, in die Läden, doch kann ich mir nicht vorstellen, wie 10 Milliarden Menschen (die vorhergesehene Bevölkerung der Erde im Jahr 2030) diesen verschwenderischen Lebensstil weiterführen wollen, wenn die Rohstoffe immer knapper und die Böden wegen Überdüngung schließlich nicht mehr wachsen lassen. Der Kapitalismus ist eine tolle Sache, doch werde ich den Verdacht nicht los, dass wir so ewig nicht leben können. Bisher ist der Kapitalismus eine Ausbeuterphilosophie. Nach uns die Sintflut. Wenn wir diesen schönen Planeten für unsere Nachkommen erhalten wollen, dann müssen wir zu Dienern und Verwaltern dieses Planeten werden. Vielleicht gelingt es uns, die Konsumphase hinter uns zu lassen und eine Lebensart zu entwickeln, die gütiger ist als die jetzige. Es scheint doch so, als hätten wir etwas gelernt in diesem verrückten Jahrhundert. Die Ereignisse der gerade vergangenen Jahre lassen hoffen. Zum Beispiel am letzten Montag: Als die Nachricht vom Staatsstreich in Moskau durchkam, war mein erster Gedanke „nun geht der kalte Krieg von vorne los“. Glücklicherweise lag ich falsch. Die viel geprüften Russen machten diesmal nicht mit. Und der große Gorbatschow hat sich nun endlich dazu durchgerungen, der Partei den Garaus zu machen. Bravo!
Die Nachkommen von Paul Guenther habe ich bisher noch nicht finden können, obwohl ich einige Briefe auf den Weg schickte. Doch hat mir Herr Coulthard in Dover die alten Fotos der Fabrik nachfotografieren lassen, von denen ich Ihnen nur sehr schlechte Kopien geschickt hatte. Auch fand er einen anderen Paragraphen in einem Buch. Diese Sachen lege ich bei. Wahrscheinlich werden wir in etwa einem Jahr wieder nach Deutschland kommen, da bringen wir den Paul Guenther-Becher mit. Sie sind uns natürlich jeder Zeit hier willkommen.
Das Verhalten der Menschen in einer Diktatur, darüber sind Bände geschrieben worden, doch ist das Thema wohl unerschöpflich. Es ist wohl gar nicht unbedingt eine Frage der Intelligenz, ob man einer Diktatur widersteht oder nicht. Wie Sie ganz richtig feststellen, haben sich sehr intelligente Leute sowohl Hitler als auch Stalin und seinen Nachfolgern zur Verfügung gestellt. Es ist eine Frage des inneren Anstands. Viele, sogenannte einfache Leute, haben den Versuchungen, Böses zu tun, auf bewunderungswerte Weise widerstanden. Es hat natürlich oft auch etwas mit Religion zu tun, obwohl die Religion ihre eigenen Gefahren zur Unterdrückung birgt. Intellektuelle sind besonders durch die Macht gefährdet. Wenn dem geistigen Menschen die Möglichkeit gegeben wird, gehabte Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen, dann wanken viele und werden zu Handlangern der Macht. Wenn der Spuk zu Ende ist, will es keiner gewesen sein. Die großen Übeltäter muss man natürlich vor Gericht stellen, doch sollte man mit den Kleinen, die nur aus Angst mitgemacht haben, gnädig verfahren. Die Ankläger hätten es sicherlich nicht besser gemacht. Die Westdeutschen haben ja völlig vergessen, was es heißt, unter einer Diktatur zu leben. Jetzt haben sie die große Klappe. Und mit der sogenannten „Entnazifizierung“ hat sich Westdeutschland vor 40 Jahren nicht gerade hervorgetan. Wie schnell waren dort die Übeltäter des 1000jährigen Reiches wieder in leitenden Posten. Unterdessen ist Westdeutschland ein Land geworden, das man achten kann. Vor 40 Jahren war es das nicht. Im Herbst 1945, als wir plötzlich kaum noch Freunde in Sachsen hatten, da lernte ich etwas, das ich nie vergessen habe. In einer verteufelten Situation muss sich jeder selbst zu retten versuchen. Wenn man in einer solchen Situation Hilfe findet, dann ist das fast ein Wunder, und die Leute, die einem helfen, werden zu Heiligen in der Erinnerung.
Der Ausspruch Ihrer Mutter: „Wenn das der Führer wüsste!“, den habe ich oft gehört, im Kriege und auch vorher. Für mindestens 60 oder 70 % der Deutschen damals war Hitler so etwas wie ein Gott. Warum die Nazis die Ergebnisse ihrer Wahlen gefälscht haben, erstaunt mich jetzt. Sie hätten sowieso alle Wahlen nach 1933 gewonnen, selbst noch im Kriege. 1938 kam er zur Einweihung einer Autobahn in der Nähe von Chemnitz. Da strömte das Volk zusammen und schrie sich die Hälse wund, ich natürlich auch, als er schließlich kam, aufrecht im Wagen stehend, mit erhobenem Arm und dem durchdringenden Blick seiner stahlharten Augen. Dass das einer war, der sich an der Macht vollsoff wie normale Leute am Bier oder Wein, das hätten wir eigentlich merken sollen.
Sie fragten mich, ob Sie meine Briefe als Unterlagen zur Geschichte der Nachkriegszeit in Geithain verwenden können. Ja, natürlich. Doch muss ich Sie warnen. Meine Erinnerungen machen nicht den Anspruch objektiv zu sein. Ich habe viel über die dreißiger Jahre und danach aufgeschrieben. Wenn es Sie interessiert, schicke ich Ihnen diese Erinnerungen nach und nach. Wenn der Streik lange genug dauert, lege ich Ihnen schon diesmal etwas bei. Anbei etwas zur „Vergangenheitsbewältigung“. Das nächste Mal mehr.
Meine Frau und ich grüßen Sie sehr herzlich. Hoffentlich ist Chemnitz von der Art, dass Ihnen Zeit zur Heimatforschung bleibt. Ihnen und Ihrer Familie wünschen wir alles Gute.
Ihr Ulrich J. Sommer
Georgetown, 18. Oktober 1991
Lieber Dr. Senf,
ihr Anruf war eine Überraschung, und wir freuten uns, dass Sie nun mit der Welt in Verbindung sind. In ein paar Jahren wird es zum täglichen Leben gehören. Haben Sie unterdessen die Photographien von Dover erhalten? Die Schwarz-Weiß-Photos der wachsenden Guenther-Fabrik? Sowie den ersten Teil meines 1945-Berichts?
Heute schicke ich Ihnen den zweiten Teil. Der Bruder meiner Frau war mit seiner Frau hier aus Hamburg für einige Wochen und wir unternahmen kleine Reisen mit ihnen in Kanada und den Staaten. Dadurch bin ich zu nichts gekommen und schreibe Ihnen erst heute.
Alles Gute Ihnen und Ihrer Familie
von Ulrich J. Und Gisela Sommer
Georgetown, 20. November 1991
Lieber Dr. Senf,
beiliegend eine weitere Fortsetzung meiner Nachkriegserinnerungen. Das Original habe ich vor einiger Zeit in der englischen Sprache verfasst, für unsere Freunde hier. Nun übersetze ich es ins Deutsche, was nicht ohne Schwierigkeiten abgeht. Haben Sie die zwei vorhergehenden Kapitel erhalten?
Wie geht es Ihnen in Ihrer neuen Arbeit? Ich erhielt einen Brief von Sybille und Wolfgang Martin (Sybille ist die jüngste Tochter meiner Patentante Jutta von Einsiedel). Dieser Brief war recht munter und optimistisch. Bisher leider keine Neuigkeiten aus Dover oder New York.
Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie ein frohes Weihnachten und ein, hoffentlich, gutes neues Jahr.
Ihr Ulrich und Gisela Sommer
Geithain, 01.12.91
Lieber Herr Sommer,
gestern erhielt