Leben auf brüchigem Eis. Eveline Luutz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eveline Luutz
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783960082040
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Einkauf für unser Osterwochenende in der Ferienwohnung. Aus der Begrüßungsformel schwang ungetrübte Vorfreude zu mir herüber, Vorfreude, die mir seltsam deplatziert erschien.

      So gut ich vermochte, schilderte ich meiner Mutter mit knappen Worten Großmutters Bitte. Nach wenigen Sätzen bereits merkte ich, dass etwas nicht stimmte, Mamas Art zu schweigen signalisierte mir das sehr eindringlich. Ich wusste sogleich, was nicht passte: meine Mutter kaufte ein, derweil Onkel Friedhelm beerdigt wurde.

      Onkel Friedhelm war nach dem Tod von Opa Max für Mama eine Art Vaterersatz gewesen. Sein Tod bedeutete einen herben Verlust für sie. Dafür, dass Mama sorglos einkaufte, gab es nur eine einzige Erklärung: Meine Mutter wusste es ebenso wenig wie ich selbst.

      Seit ein paar Wochen hatten Mama und Sabine sich darauf verständigt, dass Mama nicht mehr täglich, sondern nur noch einmal in der Woche anrufen solle, weil die Gespräche Sabines Kraft überstiegen. Sie arbeitete als OP-Schwester im Krankenhaus. Nach Feierabend pflegte sie zusammen mit ihrer Mutter den kranken Vater. Sie hatte ihm versprochen, ihn nicht wieder ins Krankenhaus zu bringen. Friedhelm wollte die letzten Tage und Wochen seines Lebens zu Hause, bei seiner Liese verbringen.

      Wann mochte meine Mutter zuletzt mit Sabine geredet haben? Vor vier Tagen, bevor sie mit der Theatergruppe nach England flog?

      Es muss bitter für Mama gewesen sein, die Nachricht von Friedhelms Tod auf diese Art und Weise von mir gehört zu haben. Ich merkte es an Mamas verbissener Wortkargheit.

      „Mama, bist du mir böse“, fragte ich vorsichtig an.

      „Nein, meine Schöne, auf dich nicht.“

      Mama wartete am Friedhofstor. Weinend umarmten wir beide uns lange und fest. Erst jetzt stieg der Schmerz in mir auf, fasste mein Kopf endlich, was geschah. Ich musste mich an meiner Mutter festhalten, so weh tat mir Onkel Friedhelms Tod plötzlich. Mamas gerötete Augen verrieten mir, dass sie schon geweint hatte. Auch ihr rollten erneut Tränen über das Gesicht. Wir standen geraume Zeit, uns aneinander festhaltend und einträchtig miteinander weinend, so, als seien wir ganz allein auf der Welt.

      Die Beerdigung war längst vorüber, der Friedhof lag verlassen im Dämmerlicht. Das Licht erzeugte in mir Ruhe und Melancholie, Verlassenheit und Schwermut in einem und verstärkte die Trauer um Onkel Friedhelm auf eigentümliche Weise. Die Welt um mich herum entrückte. Mir schien, als gebe es hier nur noch uns zwei, meine Mutter und mich. Großmutter hatte ich in diesem Moment ganz und gar vergessen. Stumm und geduldig wartete sie in ihrem dicken Biberpelzmantel, einen Wollschal um den Hals geschlungen, die Mütze auf dem Kopf, auf dem Beifahrersitz, bis ich mich ihrer erinnerte.

      Von dem Moment ab, da sie wusste, ich würde sie nach Zingst bringen, war sie in undurchdringliches Schweigen versunken. Ihre Tränen waren versiegt, als habe sie diese nur geweint, um mich zu erweichen. Die ganze Autofahrt über hatte sie nicht ein Wort gesprochen, nur abwesend ins Weite gestarrt. Auch jetzt drängelte sie nicht, sie agierte ohne Hast, als habe sich ihr Ansinnen bereits erledigt. Sie wirkte angeschlagen und entrückt, schickte sich jedoch bereitwillig in Mamas Anordnungen. Vom Wasser her fegte der eisige Wind noch immer über das Land. Die hohen Wipfel der alten Friedhofsbäume bogen sich geschmeidig wie Tänzerinnen im Winde hin und her, obwohl sein wütende Fauchen schaurig klang. Trotz des kalten Windes fühlte ich mich an diesem Ort, in der Nähe meiner Mutter, auf wundersame Weise geborgen. Der Ort und das Licht passten zu meiner Trauer. Wir waren ganz allein auf dem Friedhof. Wir, drei Frauen einer Familie, die drei aufeinander folgenden Generationen angehörten und die wir, jede auf ihre Weise, durch Friedhelms Tod einen herben Verlust erlitten hatten. Es mag seltsam anmuten, aber irgendwie einte uns der Verlust in diesem Moment in einem Maße, wie es das Leben zuvor nicht vermocht hatte.

      Mama schob Großmutter in ihrem Rollstuhl zwischen Gräberreihen hindurch zielstrebig zu einem frischen Grabhügel, den Blumen und Kränze bedeckten. Auf einem schlichten Holzkreuz prangte der Name: Friedhelm Mertens.

      Großmutter beäugte das Kreuz ungläubig, als müsse ein Irrtum vorliegen. Mama und ich verharrten reglos. Wir hielten uns bei den Händen und weinten erneut stumm in uns hinein. Niemand von uns verspürte das Bedürfnis, zu reden, dem Anderen etwas mitzuteilen. Das Schweigen, welches zwischen uns herrschte, war einträchtig, bis Großmutter es durchbrach. Sie hatte auch hier, am Grabe, nicht mehr geweint. Dennoch wirkte ihre Stimme brüchig und belegt: „Lasst mich allein! Ich möchte Abschied nehmen“, verlangte sie barsch.

      Der Ton ihrer Forderung missfiel mir. Darin manifestierte sich etwas Besitzergreifendes, das Großmutter in meinen Augen nicht zustand. Mir schien es beinahe so, als spräche sie mit dieser Forderung uns beiden, Mama und mir, das Recht ab, hier zu stehen und zu trauern. Auch Mama zog, ein untrügliches Zeichen ihres Unbehagens, die linke Augenbraue hoch. Sie ließ sich jedoch heute auf keine Diskussion mit ihrer Mutter ein.

      „Gut, Mutter, in einer halben Stunde hole ich dich ab.“

      Mama und ich zogen uns derweil in den Windschatten der Friedhofskapelle zurück, wo wir uns erneut umarmten. Mamas ganzer Körper kündete von Trauer und verhaltener Wut.

      „Du bist böse, nicht wahr?“

      „Ja, aber nicht auf dich.“

      Sie wischte mir eine Haarsträhne aus der Stirn und streichelte behutsam meinen Rücken und ich wusste, dass ihr Unmut wirklich nicht gegen mich gerichtet war.

      Nach einer halben Stunde war Großmutter trotz des dicken Mantels völlig durchgefroren. Sie sprach kein Wort mehr. Wir brachten sie vom Friedhof aus zurück in ihre Wohnung. Auch jetzt blieb sie stumm und reglos. Widerstandslos ließ sie sich aus den Sachen schälen und legte sich wie ein erschöpftes Kind sogleich ins Bett. Starr, wie eine Puppe, lag sie auf dem weißen Kissen. Erst als ich die Schlafzimmertür hinter mir schließen wollte, rief sie mir nach: „Danke vielmals. Das werde ich dir nie vergessen.“

      Ob sie Mama oder mich meinte, blieb offen; vielleicht verschmolzen wir beide in diesem Moment für sie zu einer einzigen Person.

      Tante Annelies erwartete uns bereits unruhig. Ihr phänomenales Gedächtnis hatte trotz allen Kummers und trotz aller Aufregungen sicher gespeichert, dass wir über Ostern bei Frau Krawuttke Quartier bestellt hatten. Die Begrüßung durch die Tante fiel herzlich wie immer aus. Mich umarmte sie warm und anheimelnd; ein vertrautes Gefühl von Sicherheit und Gewogenheit stellte sich augenblicklich ein.

      Tante Annelies hatte aus unserem Fehlen auf Friedhelms Beerdigung eigene Schlüsse gezogen, sie wähnte uns ahnungslos, was Onkel Friedhelms Tod betraf. Mama schilderte der Tante mit knappen Worten die Geschehnisse des Nachmittags und machte aus ihrem Unmut keinen Hehl.

      „Ick hev mi dacht, dat du nich Bescheid weeßt“, resümierte die Tante ihren Eindruck vom Zusammensein der Verwandten auf dem Leichenschmaus. „Ich hevt nich wusst, ob du von England weder dor bist. Dine Moder und Grisi wollten di Nachricht geben, dat het Grisi Sabine versproken. To mi het Grisi secht, dat du noch in England bist. God, hev ich dacht, denn kummt se in de Nacht. Du wärst nich wech bleben, wenn du schon weder da wärst, du hest tu sihr an Friedhelm hangen. Na und to Hanna secht se, dat se di nicht kunnt erreichen. Ick weeß nich, ob se nich me wusst het, wat se to mi hes secht or ob se im Kopp tüdelig west ist von de ganze Schwindelei.“

      Immer, wenn die Tante sehr bewegt war, verfiel sie automatisch ins Plattdeutsche, gerade so, als schlüpfe sie in einen Schutzmantel. Im Platt schien sie sich dann sicherer zu fühlen.

      An diesem Abend sprachen Mama und die Tante nur Platt miteinander. Auf diese Art und Weise schien es der Tante einfacher, all das auszusprechen, was sie im Innersten bewegte. Ich saß dabei und beschränkte mich, sprachlos vor Kummer, auf das Zuhören.

      Zuerst schilderte uns die Tante Onkel Friedhelms letzte Tage, die von unsäglichen Schmerzen geprägt waren, so dass sein Tod für ihn eine Erlösung bedeutet haben muss. Diese Deutung stellte für die Tante einen Trost dar, den sie benötigte, um nicht selbst ins Bodenlose zu fallen. Tante Annelies hatte ihren Mann viele Monate lang gepflegt, ohne sich selbst zu schonen. Über die Mühsal klagte sie nicht. Bei unserem letzten Besuch, kurz nach dem Jahreswechsel, hatte sie Mama versichert,