Harka. Liselotte Welskopf-Henrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Liselotte Welskopf-Henrich
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Исторические приключения
Год издания: 0
isbn: 9783957840004
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sind der Meinung, dass ihr die Ohren der getöteten Wölfe nicht tragen dürft.«

      Harka schämte sich tief für seinen Freund Tschetan. Was für eine Schande! Tschetan musste sehr mutige und gut überlegte Taten vollbringen, um eine solche Schande wieder auszulöschen. Natürlich galt das auch für Schonka, aber an Schonka dachte Harka nicht. Er wandte sich ab, als ob er nichts gesehen oder gehört hätte. Er wollte Tschetan ersparen, vor einem elfjährigen Jungen gedemütigt worden zu sein.

      Blass, mit verbissenen Lippen, verließen die beiden Burschen den Häuptling, der ihnen das gesagt hatte, was sie sich nun selbst Tag und Nacht sagen mussten, bis sie die Scharte wieder ausgewetzt hatten.

      Mattotaupa gab den Befehl zum Aufbruch.

      Die dreißig Zelte wurden abgeschlagen. Eine Anzahl Kinder musste bei den Müttern aufsitzen oder sich mit einem Platz in einer Rutsche bescheiden, da man nicht mehr genug Pferde hatte. Ein paar Frauen gingen zu Fuß wie Hawandschita.

      Harka, der Wolfstöter, konnte aber wieder seinen munteren Schecken besteigen und wie die Krieger in der langen Reihe neben den Lasttieren herreiten.

      An dem Morgen, an dem die Bärenbande vom Wüten des Sturmes überrascht worden war und ihren Aufbruch um einige Stunden hatte verschieben müssen, ging ohne ihr Wissen in der Höhle oben am Felshang etwas vor.

      Tief drinnen im Berg, in völliger undurchdringlicher Finsternis, beklommen von stickiger Luft, rührte sich ein Mensch. Seine Lederjoppe, seine Lederhosen, seine nackten Füße, das Haar waren triefend nass. Er hockte in der Einbuchtung eines fast senkrecht ansteigenden Höhlenarmes, keuchte und tastete hastig an den Rändern seines unbequemen Sitzplatzes umher. Der Kopf dröhnte ihm von dem Rauschen des Wassers, das wenige Meter tiefer mit reißender Gewalt durch die Höhlungen des Berges schoss. Diesem unterirdischen Bach war er soeben entkommen; er wusste selbst noch nicht recht, wie. Aber er war wieder bei sich, er konnte wieder atmen. Alles tat ihm weh, Kopf, Schultern, Knie. Das reißende Wasser hatte mit ihm gespielt wie mit einem Stein, ihn gegen Felswände geworfen, in Tiefen aufprallen lassen. Seine Büchse war verloren, sein Hut war verloren, das Messer war verloren, das Feuerzeug war nass. Er hatte nichts mehr als das kümmerliche Leben und die triefenden Kleider am Leib, und das im Innern des Bergs und ohne die geringste Vorstellung davon, wie er zu einem Höhlenausgang gelangen könne.

      Er zwang sich, ruhig zu atmen und zu überlegen.

      Das Wasser hatte ihn abwärtsgerissen, also befand sich die Öffnung, durch die er eingestiegen war, irgendwo über ihm. Auf direktem Wege konnte er nicht mehr dahin gelangen, denn bachaufwärts, über den unterirdischen Wasserfall hinweg, nach oben zu kommen war ausgeschlossen. Es blieb ihm von seinem jetzigen Platz aus überhaupt nur eines übrig, nämlich in dem Höhlenarm, in dem er sich befand, aufwärts zu klettern und zu sehen, ob dieser Höhlengang oder eine Abzweigung davon irgendwohin weiterführte. Das waren keine rosigen Aussichten, und er war sehr müde, aber er hatte auch keine Lebensmittel bei sich, und wenn es überhaupt noch eine Hoffnung für ihn gab, so musste er sich unverzüglich auf den gefährlichen Weg machen. Verdursten würde er vorläufig nicht, denn er hatte Wasser mehr als genug geschluckt.

      Mit seinen Händen und den nackten Füßen tastete und suchte er erneut, und dann begann er, sich rechts und links gegen die Wände des engen Höhlenarmes zu stemmen und langsam, langsam aufwärtszuschieben. Diese Art des Kletterns war recht anstrengend. Er hatte keine Vorstellung davon, ob es Tag oder Nacht sei oder welche Zeit bei seinen Anstrengungen verging. Auch hätte er nicht genau zu sagen gewusst, wieviel Höhe er gewann. Aber dass es aufwärtsging, war sicher, und allmählich ließ die Steigung nach, und er konnte etwas leichter vorankommen.

      Das gab ihm neuen Mut. Er riss alle Kraft zusammen und kletterte stetig weiter. Als der Höhlengang, in dem er sich befand, sich gabelte, war er in großer Verlegenheit, nach welcher Richtung er weiterklettern sollte. Schließlich tat er, was natürlich war: Er wählte den Gang, der ein wenig breiter und in dem es leichter war, voranzukommen. Geplagt von der Angst, dass der Gang irgendwo ausweglos enden könne, kroch er weiter und weiter. Sein Herz klopfte, und obgleich er triefnass war, schwitzte er.

      Plötzlich überwältigte ihn die Hoffnung so heftig, dass sie wie ein starker Schrecken wirkte. Er glaubte einen Lichtschimmer wahrgenommen zu haben und hielt rasch die Hand vor die Augen, um diese dann nochmals zu öffnen und sich zu überzeugen, ob er träume oder nicht. Nein, er träumte nicht. In einem schwachen Schimmer erkannte er die Felsen und seine eigene Hand. Er wollte schon vorwärtsstürmen, soweit die Enge des Höhlenarmes eine schnellere Bewegung erlaubte, da stockten ihm die Füße und die Hände. Das war kein Tageslicht, was er sah – das war ein Feuerschein.

      Ein Feuerschein in dieser Höhle!

      Er rührte sich gar nicht mehr, sondern starrte nur auf die rätselhafte Helligkeit. Es war ihm auch, als ob er ein Geräusch vernehme. War hier noch ein Mensch? Sollte das möglich sein? Er versuchte, nicht einmal den Atem hören zu lassen.

      Dann starrten sie einander an.

      Er erkannte zwei Finger, die einen kleinen brennenden Span hielten, und im flackernden Schein sah er ein Gesicht, ob alt oder jung, wusste er nicht, aber es war das Gesicht eines Menschen, eines Mannes, und der andere schien nicht weniger verblüfft zu sein als er selbst.

      »Donnerschlag, verdammt!«, sagte der andere. In der Höhle klangen die Stimmen seltsam.

      »Verdammt!«, antwortete der Triefnasse.

      »Also verflucht noch mal, wo kommst du denn her, du schwarzhaariger Regenwurm?«

      »Aus dem Wasser, Mann. Geht’s hier raus?«

      »Wenn ich Lust habe, dich rauszulassen – ja.«

      Der kleine Span verlosch wieder. Der andere hatte ein Messer, das war noch zu sehen gewesen. Jetzt war es wieder vollständig finster, fürchterlich finster.

      »Warum solltest du mich nicht rauslassen?« Die Frage klang heiser vor Erregung.

      »Was habe ich davon, dich hier rauszulassen, du verdammter Schleicher und Höhlenkriecher, du Wassermolch? Was hast du hier zu suchen?«

      In der Dunkelheit wirkte die starke und scharfe Stimme noch schärfer und drohender. Der Mensch war nicht mehr zu sehen, aber die Erinnerung daran, dass er ein Messer hatte, blieb, und diese Stimme, diese Stimme da, die war nicht gut.

      »Hab nicht gewusst, dass das deine Höhle ist«, sagte der Triefnasse ausweichend.

      »Aber jetzt weißt du’s! Was hast du hier gesucht?«

      »Hier gesucht – gar nichts.«

      »Lüge nicht so elend, du Dreckschnauze. Ich denke, dein Leben ist dir lieb. Gold hast du gesucht! Wo hast du’s?«

      »Ich habe nichts ... nichts ...«

      »Wo hast du’s gesehen?«

      »Nichts hab ich gefunden ...«

      »Na warte, ich werde dir beibringen, die Wahrheit zu sagen. Gehab dich wohl! Ich gehe. Denke aber nicht, du kannst einfach hinter mir herlaufen. Das kostet dich das Leben. Bleib, wo du bist, und verrecke. Wohl bekomm’s!«

      Der andere schien sich zurückzuziehen.

      »Mann, Mann, hab doch Erbarmen! Ich habe nichts, ich habe nichts gesehen, ich will alles sagen, alles tun!«

      »Ein Dummkopf bist du. Komm! Du wirst mir alles gestehen!«

      »Alles, alles ...«

      Der andere lachte hässlich. »Also komm!« Er wendete im engen Gang mit Mühe, dann kletterten und krochen die beiden hintereinander. Der Weg schien lang, sehr lang. Endlich wurde ein Schimmer sichtbar, der wirklich von dem Tageslicht stammte. Der Triefnasse stieß einen Freudenschrei aus. »Halt das Maul, du Idiot, im Wald sind Dakota.«

      »Ich weiß, lieber Himmel, ich bin still.«

      »Mir egal, ob dir der Himmel lieb ist, aber wenn du nicht sofort in die