Drittens war ich durch meine Arbeit als Programmierer bis zum letzten Bit mit den damaligen Computern vertraut. Und zwar nicht nur mit der praktischen Seite des Programmierens zum Lösen von Problemen in allen Disziplinen, sondern auch mit der grundlegenden logischen Funktionsweise von Computern, die sich ja im Wesentlichen bis heute nicht geändert hat und eine Art „Denkkonstante“ darstellt.
Unabhängig vom mathematischen Resultat in meiner Dissertation war dieses Zusammenspiel von Mathematik, Logik und Computer in meinen Studien- und vor allem Dissertantenjahren mein wichtigster USP für den Rest meines Berufslebens.5 Denn diese „Massage“ des Gehirns und auch der Psyche durch diese drei unterschiedlichen, zum Teil gegensätzlichen und zum Teil zusammenschwingenden Aspekte hat mich später befähigt, auch gesellschaftlich „schräge“ Dinge, die nirgends vorgesehen waren, in kurzer Zeit „vom Punkt null“ auf die Beine zu stellen. So zum Beispiel den Softwarepark Hagenberg, dessen Dynamik genau aus dem Zusammenspiel von Forschung und akademischer Lehre (im Bereich der Mathematik und der Software) und Anwendung, Wirtschaft, Business resultiert.
Bis jetzt haben Sie nur erklärt, was Sie in Ihrer Dissertation gemacht haben, dass das eine ziemlich einsame Ho-ruck-Aktion war und dass Ihr betreuender Professor Gröbner außer bei der Problemstellung kaum erreichbar war. Warum haben Sie die Erfindung in Ihrer Dissertation dann „Gröbner-Basen“ genannt?
Die abstrakten Objekte, die ich in meiner Dissertation eingeführt und später „Gröbner-Basen“ genannt habe, habe ich in meiner Dissertation nicht mit einem Namen verbunden. Es ist auch nicht üblich, dass man neue mathematische Begriffe mit dem Namen eines Mathematikers versieht. Das machen – wenn überhaupt – später Leute, die die neuen Dinge für nützlich befinden. Auch meinen Algorithmus6 zur Berechnung von Gröbner-Basen habe ich natürlich nicht mit einem Namen versehen. Heute wird dieser Algorithmus in der Literatur allerdings als „Buchberger-Algorithmus“ bezeichnet. Dass ich dann – zehn Jahre nach Erfindung – den Namen Gröbner mit den Polynombasen meiner Dissertation verbunden habe, war eine Augenblickseingebung. Und das kam so …
Für meine Erfindung der Gröbner-Basen sowie den Algorithmus zu ihrer Konstruktion hat sich damals (1965) niemand interessiert. Aus heutiger Sicht ist ziemlich klar, warum das so war. Die Mathematiker haben sich damals nicht wirklich für den Computer interessiert, und wenn, dann nur für das, was man „numerisches Rechnen“ (Rechnen mit Zahlen) nennt. Bei den Problemen in der Theorie der Polynomideale (eine abstrakte Fassung dessen, was man auch „Algebraische Geometrie“ nennt) geht es aber um Problemstellungen in abstrakten mathematischen Räumen. Da kann man nicht einfach „mit Zahlen rechnen“ (auch wenn sich zum Schluss die zahlreichen Anwendungen wieder in den konkreten Realitäten wie Roboter oder Kryptografie abspielen). Es war damals eine große Herausforderung, wie man überhaupt in solchen abstrakten Räumen „rechnen“ können soll.
Die Mainstreammathematiker haben sich damals also nicht erwartet, dass aus dem Bereich der Leute, die sich mit Computern beschäftigen, etwas wirklich mathematisch Interessantes kommt. Umgekehrt gab es damals noch keine „Computer Science“ (Informatik). Und die wenigen, die sich mit dem Computer beschäftigt haben, haben nicht wirklich auf die Mathematik geschaut, sondern auf die praktischen Schwierigkeiten, wie man die drängenden Probleme der Anwendungen in allen Bereichen der Naturwissenschaften, der Technik, der Medizin etc. durch „Programmieren“ auf dem Computer lösen könnte. Das Ergebnis meiner Dissertation war damals also genau „zwischen den Stühlen“ der traditionellen Mathematik und der beginnenden Informatik.
Dazu kam noch folgender bedauernswerter Umstand: Da ich vonseiten Gröbners keine Ermutigung bekam, habe ich mein Ergebnis zunächst nicht in einer Zeitschrift publiziert. Wie erwähnt war meine Selbsteinschätzung nicht groß genug, mein Ergebnis für wichtig und publikationswürdig zu halten. Erst als ich in den folgenden Jahren langsam verstand, wie der akademische Betrieb weltweit läuft, habe ich mich auf Anraten zweier Kollegen7 aufgerafft und über das Hauptergebnis meiner Dissertation eine Publikation verfasst und an die mathematische Zeitschrift aequationes mathematicae geschickt. (In der Forschung hatte ich mich inzwischen auf andere Themen konzentriert.) Da ich damals als Mitglied der Computergilde gesehen habe, dass in diesem Bereich Englisch die Lingua franca wird, habe ich die Arbeit auf Englisch verfasst. Der damalige Herausgeber der Zeitschrift, Professor Alexander M. Ostrowski – ein bedeutender Mathematiker des 20. Jahrhunderts –, hat aber befunden, dass es besser sei, wenn ich die Arbeit in meiner Muttersprache Deutsch schriebe. Aus heutiger Sicht natürlich genau das Falsche! Denn das hat das Bekanntwerden meines Resultats sicher um Jahre verzögert. (Die mathematische Leserschaft, die deutsche Papers liest, umfasst weltweit vielleicht ein Prozent!)
Also eigentlich schlechteste Chancen für Ihr Resultat. Wie kam es dann zum Durchbruch?
Wie oft im Leben sind Dinge, die eigentlich negativ und hinderlich sind, dann auf überraschende Weise ein sehr großer Gewinn, den man auf „linearem“ Weg nicht erzielen würde.
In meinem Fall kam das so: Ich war 1976 an die Universität Kaiserslautern eingeladen, um einen Vortrag über meine damalige Forschung (die logische Grundlegung des damals neu aufkommenden Gebiets der Programmiersprachen) zu halten. Als ich mich in einem kleinen Nebenraum auf meinen Vortrag vorbereitete, kam ein Professor der angewandten Physik herein und sagte zu mir: „Ich möchte Ihnen nur mitteilen, dass ich nicht zu Ihrem Vortrag kommen werde.“ Ich dachte: „Ein sehr höflicher Mensch, entschuldigt sich noch, dass er keine Zeit hat.“ Er fuhr dann aber fort: „Nicht, dass ich keine Zeit habe, aber ich finde bereits den Titel Ihres Vortrags unsinnig!“ Ich war schockiert.8
Fast hätte ich mich als gelernter Österreicher auf dem Absatz umgedreht und wäre nach Hause gefahren. Da bäumte sich in mir meine Tiroler „Andreas-Hofer-Mentalität“ für das Überleben in schwierigen Situationen auf und ich fragte: „Bitte, was forschen Sie denn so Sinnvolles?“ Und er erzählte, dass jetzt in der Physik und auf anderen Gebieten Computerverfahren für die qualitative Analyse nicht linearer Systeme ganz wichtig wären, dass „da aber schon die grundlegendsten Fragen ungelöst sind“. „Was zum Beispiel?“, fragte ich. Da erklärte er mir ein Problem, von dem mir schon während seiner Darstellung klar wurde, dass es sich auf das grundlegende Problem zurückführen ließ, das ich in meiner Dissertation (und der zugehörigen Publikation in der Zeitschrift aequationes mathematicae) gelöst hatte.
Ich sagte deshalb: „Ich weiß, wie man Ihr Problem löst.“ Da schaute er mich sehr mitleidig an, so quasi, „der ist so beschränkt, dass er nicht einmal sieht, wie schwierig das Problem ist“, und meinte dann nur: „Das wäre wirklich unglaublich, schicken Sie mir doch Ihr Paper!“ Später fand ich heraus, dass er kurz davor bei einer Konferenz ein Paper mit der Vermutung präsentiert hatte, dass das Problem, von dem wir sprachen, vielleicht „algorithmisch unlösbar“ wäre. Solche Probleme gibt es in der Mathematik. Das sind Probleme, von denen man beweisen kann, dass es aus gewissen logischen Gründen niemals ein Computerverfahren geben wird, welches das Problem in seiner Allgemeinheit wird lösen können. Seine Vermutung war in gewisser Weise plausibel, denn 1970 hatte der russische Mathematiker Yuri Matiyasevich9 gezeigt, dass ein Problem, das sehr ähnlich zu dem Problem in meiner Dissertation ausschaut, tatsächlich algorithmisch unlösbar ist. Dass mein deutscher Kollege also in der internationalen Öffentlichkeit die Vermutung aufgestellt hatte, dass sein Problem algorithmisch unlösbar sein könnte, ließ ihn also gegenüber meiner Ankündigung, dass ich es lösen könne, sehr skeptisch sein!
Ich schickte ihm also mein Paper. Einen Tag später rief er mich an und war wirklich beeindruckt: „Das ist ja unglaublich! Wir müssen Ihr Resultat jetzt rasch bekannt machen