Bereits bei seinem Wien-Aufenthalt im September muss er es gewusst haben: Seine Frau ist wieder schwanger; am 30. März 1941 wird Tochter Ingeborg geboren. Als ihm Anny telegrafiert: „Es ist ein Mädchen geworden“, telegrafiert Göth, der sich einen Sohn gewünscht hat, zurück: „Bitte telegrafiere, was es wirklich geworden ist.“ Anny antwortet: „Es ist wirklich ein Mädchen geworden!“ Später, als er Ingeborg bei einem Aufenthalt in Wien das erste Mal sieht, verliebt er sich in sie und bringt ein lebensgroßes Foto von ihr nach Płaszów.
Im „Umsiedlungskommando“ der „Volksdeutschen Mittelstelle“ in Kattowitz ist Göth Kassenverwalter; sein Arbeitsbereich ist die Eingliederung von Russlanddeutschen. Eines Tages trifft er einen alten Bekannten aus der illegalen Zeit wieder: den ehemaligen Ringer Franz Grün, von dessen sportlichen Fähigkeiten er sich bald am eigenen Leib überzeugen kann. Als er dem breitschultrigen, athletischen Grün eines Tages am Korridor zum Spaß das „Haxel stellt“, revanchiert sich dieser mit einem gekonnt ausgeführten Schulterwurf, der Göth prompt unsanft zu Boden streckt. Das werde er ihm, Grün, nie vergessen, erklärt er danach wütend, er werde dafür sorgen, dass er diese Aktion büßen müsse – noch ahnt er nicht, dass er dazu tatsächlich bald Gelegenheit haben wird.
Ein Blick auf die nicht untypische NS-„Karriere“ Franz Grüns lohnt sich: Geboren in Wien am 5. Oktober 1902 als Sohn eines Metallgießermeisters in der Gumpendorfer Straße 104, arbeitet er bis 1933 in Wien als Bäckergehilfe und ist dann bis 1937 ständig arbeitslos. 1929/30 ist er Mitglied des Steirischen Heimatschutzes Wien, am 24. März 1931 tritt er der Ortsgruppe Wien-Mariahilf der NSDAP als Mitglied (Mitgliedsnummer 442.388) und im August 1931 dem SS-Sturm 2/II/11 bei. Er erhält die SS-Nr. 14863. Bis zum Verbot der NSDAP beschäftigt er sich nach eigener Darstellung „legal in der Propaganda“, danach „im Rahmen der Schutzstaffel mit Werben von Mitgliedern und überhaupt im Sinne der NSDAP“. Den Höhepunkt seiner Karriere als Sportringer erlebt er 1927/28 im pfälzischen Pirmasens beim Athleten-Klub Herkules; beschäftigt ist er in dieser Zeit bei der örtlichen Konsumbäckerei und hier in Pirmasens lernte er auch seine spätere Frau Anna Maria, geborene Selbig, kennen, die er 1932 heiratet.
Der handgeschriebene Lebenslauf Göths für das SS-Personalhauptamt:
Von einem Studium der „Landwirtschaft“ ist keine Rede mehr.
Für das Ehepaar Grün, das zusammen mit dem 1933 geborenen Sohn Franz ein Leben am Rande des Existenzminimums fristet, werden die Nazis zur einzigen Hoffnung. In Wien müssen sie bei den Eltern von Franz leben, da das Wohnungsamt alle Anträge auf eine eigene Wohnung abweist. Es gibt keine Verdienstmöglichkeiten, dazu kommt, dass die politische Gesinnung Franz Grüns inzwischen polizeibekannt ist und immer wieder Hausdurchsuchungen stattfinden. Schließlich richtet die verzweifelte Anna Maria Grün ohne Wissen ihres Mannes ein Schreiben direkt an Hitler, in dem sie den „Führer“ um die Erlaubnis zur Übersiedlung nach Pirmasens bittet. Und die Beamten des Reichskanzlers enttäuschen sie nicht: Im Februar 1937 wird die Einreisegenehmigumg ausgesprochen; das NSDAP-Flüchtlingshilfswerk nimmt sich der Familie, die zunächst im Hilfswerklager Kreuz-Pullenbach untergebracht wird, großzügig an: Man gewährt ein Einrichtungsdarlehen in der Höhe von 600,– Reichsmark, anlässlich der Geburt von Tochter Anna Beatrix 1938 erlässt man ihm die Restschuld. Grün selbst kommt in das SS-Lager Ranis. Da gibt es bald auch die erste obligate „Beurteilung“ Grüns durch den Lagerleiter: Dieser sei „zwar im Wesen etwas schwerfälllig und nicht mit großen Geistesgaben gesegnet, dafür aber nicht minder zuverlässig und willig. Benehmen und Führung einwandfrei.“
Dann kommt der „Anschluss“ und da will auch Franz Grün nicht fehlen, wenn es darum geht, als „alter Kämpfer“ für die Entbehrungen der „Systemzeit“ entschädigt zu werden: Im Juli übersiedeln die Grüns zurück nach Wien, man findet eine Wohnung in der Gumpendorfer Straße 87; das NSDAP-Flüchtlingshilfswerk zeigt sich ein letztes Mal spendabel und übernimmt die Speditionskosten. Franz Grüns Leben bekommt nun Sinn und Richtung und er ist entschlossen, diese einzige Chance zu nützen. Ein Fragebogen der Wiener Gauleitung zur politischen Beurteilung Grüns vom 26. Jänner 1939 nennt bereits jenen „Beruf“, der sein Schicksal werden wird: „SS Wache“.
Ein Mann wie SS-Scharführer Franz Grün, mit Oberlippenbart und Bürstenhaarschnitt seinem Idol Hitler nicht unähnlich, ist als Handlanger gut zu gebrauchen – Göth wird sich an ihn bald wieder erinnern.
Am 14. Juli 1941 stellt SS-Sturmbannführer Otto Winter, der „Führer“ der 11. SS-Standarte, für Göth ein „Dienstleistungszeugnis“ aus, die „Beurteilung“ lässt nichts zu wünschen übrig: „Der genannte ist charakterlich und weltanschaulich gefestigt, frei von jeder konfessionellen Bindung. In der Verbotszeit war Göth als Adjutant der 52. SS-Standarte tätig und hat sich dort große Verdienste erworben. Göth ist ein vorbildlicher SS-Kamerad und steht seit 1925 in der Bewegung und zwar von 1925 – 1926 in der HJ und 1929 bis 1930 in der SA. Seit 1930 in der Schutzstaffel.“ Und in einem „Personal-Bericht“ vom 10. Oktober 1941, unterzeichnet von Ernst Kaltenbrunner, damals noch „Führer des SS-Oberabschnittes Donau“, attestiert ihm derselbe Otto Winter, dass er ein „aufrechter Nationalsozialist & opferfreudiger & einsatzbereiter SS-Mann“ sei, „zum SS-Führer“ geeignet. Ein SS-Mann also, wie man ihn sich wünscht – auch das „rassische Gesamtbild“ stimmt: „fälisch-ostisch“ steht da, gepaart mit „mutiger, bestimmter Haltung“ und „umfassendem“ Wissen; es gebe keine besonderen Mängel und Schwächen. Das ist eine neuerliche Beförderung wert: Am 9. November 1941 avanciert Göth zum SS-Untersturmführer in der 11. SS-Standarte.
Die Personalakten Göths aus seinen beiden ersten Jahren im Dienste der SS zeigen das Bild eines ehrgeizigen, loyalen und ambitionierten Mannes. All dies ist jedoch nur Präludium zum großen Karrieresprung, der nun bevorsteht und dessen Hintergründe im Dunkeln liegen: Wer hat ihm den Weg nach Osten ins Generalgouvernement geebnet, ihn als Mitarbeiter angefordert? Haben hier persönliche Kontakte zu Männern aus dem Stab Odilo Globocniks oder seine Reputation als hervorragender „Organisator“ den Ausschlag gegeben?
Wie dem auch sei: Wohl schon im Frühjahr 1942 – der offizielle „Einstellungsvorgang“ erfolgt erst am 11. August 1942 – trifft Göth in Lublin ein, dem „weit nach Osten vorgeschobenen Posten der abendländischen Kultur“. Hier wohnt und arbeitet er in der Julius-Schreck-Kaserne, dem ehemaligen Stefan-Batory-Kolleg in der Pieradzkiegostraße 17, die als Hauptquartier für die Drahtzieher der Aktion Reinhardt dient. Er ist nun Mitglied im Stab von SS-Brigadeführer Globocnik, den die Männer nur „Globus“ nennen. Im Kreis dieser SS-Offiziere wird der Massenmord an den Juden im Generalgouvernement minutiös geplant und mit gnadenloser Härte „umgesetzt“.
Seine erste Aufgabe: der Ausbau des seit 1940 bestehenden Arbeitslagers in Budzyń, etwa 40 Kilometer südwestlich von Lublin bei Krasnik gelegen. Baracken für 2.000 Arbeiter sollen errichtet werden; gleich daneben baut man an einer Flugzeugfabrik der Heinkel-Werke. Im Oktober 1942 treffen nach und nach jüdische Arbeiter aus dem Ghetto in Końskowola ein; obwohl die Flugzeugfabrik noch nicht fertig ist, müssen sie dort Tragflächen reparieren bzw. neu produzieren.
Flugzeugpionier Ernst Heinkel, später als genialer Erfinder und Konstrukteur verklärt, nützt wie kein anderer deutscher Unternehmer die Möglichkeiten, die das System der Zwangsarbeiterlager ihm bietet. So betont er im Juni 1942 in einem Brief an Generalluftzeugmeister Erhard Milch, den Verantwortlichen für die Luftrüstung, die Vorteile eines Einsatzes von jüdischen Zwangsarbeitern: „Neue Arbeitskräfte sind im Generalgouvernement leichter zu beschaffen als an jedem anderen Ort im Altreich. Außer Polen können vor allem gute Arbeitskräfte aus der reichlich vorhandenen jüdischen Bevölkerung gewonnen werden.“