Die Phase der Angleichung an den Staat während des Aufstiegs des Christentums zur Staatsreligion erreicht mit dem Mailänder Toleranzedikt 313 einen vorläufigen Höhepunkt. Doch dann kommt es zu Rückschlägen. Das Christentum verliert an Glaubwürdigkeit, vor allem als 410 das für unmöglich Gehaltene geschieht: Die Hauptstadt des Erdkreises wird von den Westgoten Alarichs erstürmt und geplündert. Die von der Kirche gepredigten angeblichen irdischen Interessen Gottes erweisen sich nun als Bumerang. Denn, so fragen die Bürger, wenn Gott Roms Schicksal leitet, warum will er es dann vernichten? Haben nicht die alten Götter das Imperium mehr als 700 Jahre viel besser beschützt als der Christengott?
Dazu kommt noch, dass die Eroberer Roms selbst Christen sind. Schnell sind Volksredner mit dem Vorwurf bei der Hand, man habe sich da wohl eine christliche Laus im Pelz gezüchtet und die Schutzgötter hätten ihre Hand von der Stadt abgezogen. In Scharen laufen die zweifelnden Christen nun wieder zu ihren alten Kulten zurück. Es ist Augustinus von Hippo (354 – 430), ein zum Christentum bekehrter Manichäer, fanatisch, von existenziellen Zweifeln zerfressen, besessen von einem heiligen Genie, der versucht, das Christentum gegenüber dem Staat neu zu positionieren. So nennt er auch sein Hauptwerk De civitate Dei, Vom Gottesstaat. Mit der Kraft göttlicher Polemik liest er den Römern die Leviten: Ungerechtigkeit habe das Imperium geschaffen, Ruhmsucht, Herrschsucht und Verbrechen hätten es erweitert. Daran schließt sich Augustinus’ gnadenloses Fazit: „Was sind überhaupt Reiche nach der Beseitigung der Gerechtigkeit anderes als große Räuberbanden? Wenn eine solche Gemeinschaft verworfener Menschen so ins Große wächst, kann sie mit Fug und Recht den Namen ,Reich‘ annehmen, den ihr die Bevölkerung beilegt, nicht als wäre die Habgier erloschen, sondern weil Straflosigkeit dafür eingetreten ist.“44
Selbst Heiden könnten Gottes Wort besser verstehen, sagt Augustinus. Was der Mensch Willensfreiheit nenne, sei bloß eine Auswahl unter den Möglichkeiten des Bösen. Er sei unfähig, Gott zu gehorchen. Nur einen Ausweg gebe es: die Liebe zu Gott, welche Gerechtigkeit und Nächstenliebe schaffe. Die heilige Aufgabe des Staates, so schließt Augustinus, ist nicht die Ausweitung seines Territoriums, sondern die innere Friedensordnung.
Hin- und hergerissen zwischen Paulus und Augustinus, zwischen geschickter Komplizenschaft mit Adel und Weltlichkeit und den radikalen Idealen des Christentums, mäandert die Staatsreligion durch die Völkerwanderungszeit ins Mittelalter. Entlang diesen gegenläufigen Strömungen entbrennt ab dem 13. Jahrhundert die Diskussion um die richtige Art, zu wirtschaften, und die gerechte Schöpfung von Gewinn. Da versucht einer der wichtigsten Köpfe der Kirchengeschichte, die Systeme durch reine Logik miteinander zu verzahnen, und schafft eine Theorie der gerechten Wirtschaft, die bis heute kaum an Aktualität verloren hat: Thomas von Aquin, in dessen Zeit wir nun eintauchen wollen.
Bettler, Banchieri und Magnaten
Das 13. Jahrhundert ist eine äußerst produktive historische Schnittstelle, die zumindest ökonomisch vieles Neuzeitliche vorwegnimmt. Je weiter die Forschung in diese Zeit einzudringen vermag, desto mehr erscheint das Denken in jener Zeit in einem ungewohnt modernen Licht.
Das Ende der Völkerwanderung bringt eine bis dahin nicht gekannte Prosperität. Um 1270 erreicht Europa mit 73 Millionen Menschen die höchste Bevölkerungszahl des Mittelalters. Die Städte und Stadtstaaten begründen im 12. und 13. Jahrhundert ihre Macht: In Italien sind dies Venedig, Genua, Florenz, Padua, Mantua und Ferrara. In Mitteleuropa und im Norden vor allem die Städte der Hanse, London, Lissabon und die Niederlassungen an den großen Flüssen: Köln, Kiew, Wien, Belgrad. Köln verzeichnet zu dieser Zeit immerhin 40.000 Einwohner, Paris 80.000, Mailand und Florenz sogar 180.000. Aber wie eine so enorme Zahl von Menschen ernähren, auf Basis primitiver Dreifelderwirtschaft und Bauern, die zumeist noch nicht einmal den Pflug einsetzen? Durch Handel, lautet die Antwort.
Der Warenverkehr kommt zu neuer Blüte, vermag Güter über weite Strecken anzuliefern und Versorgungslücken schnell zu schließen. Aber noch viel mehr befestigt er die steigende Macht der Städte gegenüber den Fürsten. Schon 1215 erhalten die englischen Städte mehr Rechte gegenüber dem Adel: Die „Magna Charta Liberatum“ markiert den Beginn eines langsamen, aber nicht mehr aufzuhaltenden Aufstiegs des Bürgertums.
Die Ideale des Feudalwesens, der ritterlichen Haltung und des Standes, ausgeschmückt mit fantastischen Legenden und brennender Leidenschaft, mit Heldentum und prächtigem Popanz, von welcher der Historiker Johan Huizinga in seinem Buch Herbst des Mittelalters erzählt, erleben ihren Höhepunkt und den Übergang zu ihrem schleichenden Ende. Reichtum ist zumindest in den großen Städten nicht mehr nur eine Frage vererbter Rechte, sondern entsteht auch durch Arbeit und den Austausch von Ideen, Geld und Gütern.
Vom frühen 12. bis ins 15. Jahrhundert erlebt Europa so einen deutlichen Handelsaufschwung. Die ersten echten Handelsverträge werden unter den Bezeichnungen „Societàs“ oder „Compagnia“ aufgesetzt, und ab dem 14. Jahrhundert halten Versicherungen auf Schiff und Ware Einzug ins Handelsleben. Hand in Hand mit den verfeinerten Rechtstechniken kommt es auch zur Verwendung von Geldwechseln und Geldanweisungen, die einen relativ sicheren Bargeldverkehr zwischen weit voneinander entfernten Destinationen ermöglichen. Eines der treffendsten Beispiele dafür ist ein Wechsel aus dem Jahr 1399 über 472 Pfund, die ein Tuchhändler in Brügge bei einem Brügger Bankier für Waren behebt, die er soeben an einen anderen Händler nach Katalonien geschickt hat. Dieser katalonische Händler wird nach Vorlage des Wechsels den gleichen Betrag mit Zinsen in anderer Währung an einen Partner des Brügger Bankiers in Barcelona bezahlen.
Doch vor allem ist es die Erfindung von Basiswerkzeugen, die den Handel revolutioniert, etwa der doppelten Buchhaltung. Damals heißt es freilich noch nicht Soll und Haben, sondern sinnfälliger compto vostro, compto nostro.
Der stumme Ochse
In diese sich in allen ihren Fasern modernisierende Gesellschaft wird 1224 Thomas von Aquin geboren. Seine Familie gehört dem niederen Adel an, der Stammsitz des Geschlechts Aquin befindet sich in Roccasecca, unweit von Neapel. Thomas erhält eine Ausbildung bei den Benediktinern von Monte Cassino. Darauf folgt ein theologisches Studium in Neapel. Die Stadt ist damals eine abendländische Metropole, zu der sie vor allem Friedrich II., der weltoffene Stauferkaiser, gemacht hat. An seinem Hof versammelt er alles, was die damalige Welt an Kunstfertigkeit und Wissen zu bieten hat – vom normannischen Baumeister bis zum sarrazenischen Sterndeuter. Friedrich, ein erbitterter Feind des Papsttums, baut Neapel zu einem der wichtigsten Zentren des philosophischen Austauschs zwischen Abendland und Morgenland aus. Hier werden auch früh die verschollen geglaubten Texte der griechischen Philosophen übersetzt, die über spanisch-maurische Umwege wieder ins Abendland gelangt waren.
In Neapel stieß der junge Thomas also erstmals auf die Schriften des Aristoteles – und wohl auch auf seine christliche Berufung. Ein Predigerorden machte damals in Neapel von sich reden, der Ordo Fratrum Predicatorum, nach ihrem Gründer Dominikus Guzmàn auch Dominikanerorden genannt. Die Dominikaner genossen einen reformatorischen Ruf – allzu revolutionär für Thomas’ kaisertreue Familie, die den jüngsten Spross nicht gleich an die Kirche verlieren wollte. Die Sorge des Clans um den jungen Studenten nahm dann freilich etwas drastische Formen an. Thomas’ Brüder Rinaldo und Randulf entführten ihn auf dem Weg nach Rom und hielten ihn 1244 bis 1245 gefangen, um ihm die dominikanischen Flausen auszutreiben. Doch wie gewöhnlich bei solchen Zwangsmaßnahmen scheinen sie den jungen Mann nur noch mehr animiert zu haben, seine Karriere als Geistlicher weiterzuverfolgen.
Immerhin eröffneten die Dominikaner Thomas den Weg in die europäische Gelehrsamkeit: Latein war die Lingua franca des ganzen Kontinents. In Paris sprach man es ebenso wie in London, Gent, Mailand oder eben Neapel. Die Orden arbeiteten grenzübergreifend und standen in einem mit harten Bandagen geführten Kampf gegeneinander und gegen die bischöfliche Kirche um die weltliche und theologische Deutungshoheit.
Thomas von Aquin scheint sich