Melanchthon und Luther als Väter. Ingo Neumann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ingo Neumann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783960080305
Скачать книгу
wohnte in einem nagelneuen Haus. Der Kurfürst hatte es ihm 1536 gebaut, auf einem Grundstück, das seiner Frau Katharina gehörte und auf dem in den ersten Jahren ihrer Ehe die kleine Bude stand, in der sie sehr bescheiden wohnten. Das neue Haus kann den Vergleich mit den Häusern wohlhabender Handwerker und Kaufleute aushalten. Es steht gleichsam in ihrer Tradition. Seit Beginn seiner Lehrtätigkeit in Wittenberg 1518 hat Melanchthon dafür geworben, dass seine Kollegen Studenten bei sich zu Hause aufnehmen.18 Schon bald darauf hatte er bei sich Studenten aufgenommen und damit eine Art Wohngemeinschaft gegründet. Jetzt im neuen großen Haus und mit diesen Vorerfahrungen im Rücken kann Melanchthon seine Vorstellungen von einem modernen, an humanistischen Idealen ausgerichteten Studienbetrieb wie auf dem Reißbrett verwirklichen. Er nimmt ständige Hausschüler bei sich auf und gründet eine „schola domestica“, eine Hausschule.19

      Bei Luther sieht das ganz anders aus. Er bewohnt das Schwarze Kloster. Das war ein alter, weitläufiger Bau, immer wieder umgebaut, auch zu Luthers Zeiten. Nach Auflösung des Augustinerklosters hatte der Kurfürst es Luther 1524 überlassen. Hier musste er sich mit seiner Ehefrau Katharina 1525 einrichten.

      Als Mitte dieses Hauses wird das Studierzimmer, die Lutherstube, gezeigt. Im selben ersten Stockwerk ist die Disputationsaula zu sehen, Luthers Hörsaal. Aber es gibt auch bei Luther noch eine andere Mitte des Hauses: den Tisch, um den sich die wachsende Familie versammelt, zusammen mit den Mitbewohnern des Hauses und den Gästen, zweimal am Tage, zum Mittagessen und zum Abendessen. Ein Tisch von gewaltigen Ausmaßen, stelle ich mir vor, oder auch mehrere Tische, denn im Haus wohnen nicht nur eine stattliche Anzahl Studenten, sondern je länger je mehr auch in Not geratene Verwandte Luthers, darunter eine ganze Anzahl Kinder.

      Man muss also, noch deutlicher als bei Melanchthon, ein Haus mit zwei Schwerpunkten vor sich sehen: dem Studienbetrieb und der groß angelegten Haushaltung, dem Tisch. Und wie der Hochschulbereich durch eine ungeheuere Anzahl von Schriften dokumentiert ist, so der Tisch durch Luthers Tischreden, die in sechs Bände der Weimaraner Ausgabe gesammelt sind.

      Beide Häuser sind je auf ihre Art Laboratorien einer neuen Epoche, einer neuen Verbindung von Familienleben und Universität, einer neuen Pädagogik und neuer theologischer Grundentscheidungen.

      Wenn wir den Suchaufträgen nachgehen, die in diesen Erinnerungsbildern stecken, dann stellt sich bald die Frage nach dem Epochalen, nach dem Neuen in dieser Art zu wohnen, zu leben, zu arbeiten. Neu ist nicht, dass Professor und Schüler unter einem Dach wohnen. Diese ganzheitliche Art des Lernens, deren Wurzeln man schließlich bis zu den Rabbinen und zu Jesus und seinen Jüngern zurückverfolgen kann. Auch das Bursenwesen hat eine lange Geschichte,20 in der die zusätzlichen Einnahmen für den Lehrer immer schon eine wichtige Rolle spielten.

      Schwarzes Kloster: das Lutherhaus

      Neu ist, dass Magister und Doktor verheiratet sind, dass die Ehefrau des Lehrers die Haushaltung organisiert, die Zimmer vermietet, die Gelder eintreibt, und dass die Schüler in eine real existierende Familie aufgenommen werden.

      Das hat eine sehr interessante ökonomische Seite. Katharina Melanchthon stammte aus einem Handwerkerhaushalt. Jetzt hatte sie einen Haushalt aufzubauen, bei dem noch ein paar mehr „Lehrlinge“ und „Gesellen“ zu beherbergen und zu verköstigen waren als zu Hause. Melanchthon prahlt einmal: „Heute wurde an meinem Tische in elf Sprachen geredet, lateinisch, griechisch, hebräisch, deutsch, ungarisch, slavisch, türkisch, arabisch, neugriechisch, indisch und spanisch.“21 Katharina war dieser Aufgabe durchaus gewachsen, auch wenn sie nicht so geschäftstüchtig war, wie Luthers Käthe. Nur ein Mal, als sie sich über längere Zeit schwach fühlt, bittet Melanchthon die jugendlichen Kostgänger, „sich andere Tischplätze zu suchen“.22

      Katharina Luther dagegen baute ihre Position zielstrebig aus. Das große Kloster bot viele Räume, die sie an Studenten vermieten konnte. Die Wohn- und Lernatmosphäre um sie und ihren Mann hatte so viel Faszinierendes, dass oft alle Zimmer ausgebucht waren und sie nicht einmal mehr Freunde aufnehmen konnte. Luther war ungewöhnlich freigiebig und von einer königlichen Gastfreiheit. Ihr fiel die Rolle zu, mit den Studenten unnachgiebig abzurechnen. Und Luthers große offene Tafel ließ sich nur durch eine professionell organisierte Hauswirtschaft beschicken, zu der ein wachsender Bestand an eigenen Gärten und schließlich sogar eine kleine Landwirtschaft gehörten. Sie wurde dabei zu einer selbständigen Unternehmerin und verdiente zeitweise mehr, als ihr Mann, der am besten bezahlte Professor in Wittenberg.

      Während Luther die Lehrtradition seines Klosters im Rahmen einer reformatorisch umgestalteten theologischen Fakultät weiterführte, brachte sie ihr ökonomisches Können zum Einsatz, das sie ebenfalls der Erziehung im Kloster verdankte. Klöster waren mitunter äußerst erfolgreiche Wirtschaftsunternehmen mit einer Ausstrahlung, die noch heute andauert. Luther hat sie darin voll anerkannt, und man kann seine amüsanten Beschreibungen ihrer weitläufigen Unternehmungen unmittelbar neben die seiner eigenen Arbeitsüberlastung stellen, die ja auch amüsant klingen.23

      Diese Struktur ist etwas Neues: nicht die der traditionellen Arbeitsehe, wo Mann und Frau sich gemeinsam an der Ausübung des Berufs beteiligen, in Handel, Handwerk oder bäuerlicher Arbeit; auch nicht der spätere Beamtenhaushalt, wo der Mann der Ernährer ist und die Frau sich der Küche und den Kindern zu widmen hat. Hier leuchtet ein drittes Modell auf: Wo beide in ihrem eigenen Bereich selbständig arbeiten, gleich erfolgreich, und kooperieren.

      Das eigentlich Neue, das epochal Neue aber spielt sich in einem ganz anderen Bereich ab, der etwas mit der Intimität der Familie zu tun hat. Das wird sehr drastisch illustriert durch eine Begebenheit einhundertfünfzig Jahre später, die Philippe Ariès in seiner „Geschichte der Kindheit“ referiert:

      „Man duldete damals zwar, dass Lehrer heirateten, hielt jedoch daran fest, dass verheiratete Lehrer keine Universitätsämter übernehmen dürften. Im Jahr 1677 nun wird ein verheirateter Professor zum Dekan der Tribu von Paris gewählt. Der unterlegene Kandidat, der Kanzlist du Boulay, erhebt dagegen Einspruch, und die Angelegenheit wird an den Conseil Privé weitergeleitet. Du Boulays Anwalt gibt in einem Memorandum die Gründe an, die sich für die Aufrechterhaltung des Zölibats der Professoren anführen ließen. Lehrer nehmen gewöhnlich Pensionäre bei sich auf, und die Tugend dieser Knaben kann in mehrfacher Hinsicht in Gefahr geraten:

       Unschicklichkeiten, die nur allzu oft auftreten, weil verheiratete Lehrer genötigt sind, häufig junge Leute bei sich zu haben, die sie dann in Gegenwart ihrer Frauen, ihrer Töchter und ihrer Dienerinnen unterrichten. Solches lässt sich unmöglich verhindern und trifft auf die Pensionäre in noch größerem Maß zu als auf die Externen. Ich bitte die Herren Kommissare bei ihren Überlegungen folgendes zu bedenken: welche Unschicklichkeit es insgesamt bedeutet, dass die Schüler auf der einen Seite die Kleider der Ehefrauen und Töchter und auf der anderen Seite ihre Bücher und ihr Schreibzeug und oft genug alles durcheinander zu sehen bekommen, dass sie mitansehen, wie die Ehefrauen und Töchter sich kämmen, ankleiden, zurechtmachen, dass sie Kinder in der Wiege und in Windeln und alles übrige erleben, was zur Ehe gehört …

      Schwarzes Kloster, Großer Hörsaal

      Der verheiratete Lehrer antwortet darauf, dass es dort, wo Frauen leben, auch Zimmer gibt, in denen sie für sich sind, wenn sie sich ankleiden …, und andere Zimmer für die Schüler. Was nun die Kinder in der Wiege betrifft, so kann man in den Pariser Wohnungen keine solchen finden, weil sie alle bei einer Amme sind: Bekanntlich schickt man die Kinder zu einer Amme auf irgendein benachbartes Dorf, so dass man bei den Eheleuten ebenso wenig Wiegen und Windeln antrifft wie in der Kanzlei besagten du Boulays“.24

      Interessant ist, dass es zwischen beiden Bewerbern, dem verheirateten und dem zölibatär lebenden, einen Konsens darüber gibt, dass Schüler weder Frauen zu Gesicht bekommen dürfen, die sich ankleiden, noch Kinder in der Wiege und in Windeln. Erst vor einem solchen