So war das im Hause, um den Frühstückstisch herum und dann beim Mittagessen nach der Schule. Davon hat meine Mutter viel erzählt. Auch von dem Leben der Kinder auf dem weitläufigen Anstaltsgelände, vom Spielen unter den gewaltigen Dächern der alten Klostergebäude und den Freundschaften untereinander, mit den Kindern der anderen Beamten. Aber wie das draußen war, wie sie von den andern Kindern angesehen wurden, wie man mit ihnen umging – das wurde nie zum Thema. Natürlich waren sie interessant, denke ich. Sie kamen aus einer anderen Welt. Aber sie waren auch Henkerskinder, gewissermaßen.
Das Melanchthonhaus
Vielleicht ist es diese Fülle von Bildern und Geschichten, die mich bei einer Führung durch das Melanchthonhaus hat abirren lassen. Dort Kinder im Haus des Strafanstaltsdirektors, mitten in einer preußischen Strafanstalt, in einem abgeschlossenen Anstaltsbezirk – hier Kinder in einem stattlichen Bürgerhaus, vom Fürsten für den Vater und seine Familie großzügig gebaut. Auch eine Art Anstalt mit einem dramatischen Innenleben. Leider wurde von den Kindern nicht viel erzählt. Die Namen und Geburtsdaten ja – aber wie sie in diesem Hause gelebt haben? Und doch müssen sie irgendwie da gewesen sein. So fing ich an, mir das Leben der Kinder im Melanchthonhaus selbst auszumalen.
Am meisten beeindruckt hat mich die Diele im ersten Stock. Hier konnte die geführte Gruppe sich ungehindert bewegen. Von hier aus kam man in wichtige Räume links und rechts, von hier aus zur Treppe in den zweiten Stock. Hierher kam die Führung nach allen Ausflügen immer wieder zurück. Ein quadratischer Raum. Nicht hell. Die Mitte des Hauses. Ein inneres Foyer.
Und die Kinder? Wurden sie in der Küche unter Verschluss gehalten? Oder in Frau Katharinas Schlafzimmer? Kinderzimmer gab es ja nicht, habe ich inzwischen gelernt. Nein. Ich stelle mir vor, dass sie bei allem dabei waren. Dass sie alles mitkriegten, was in diesem Hause geschah. Und was ereignete sich nicht alles unter dem Dach dieses Hauses mit seinen vier Wohnebenen.
Schon der Alltag war farbig genug. Fangen wir an mit der Familie, auch wenn Melanchthon schon früher da war. Der hatte nämlich schon in der Bude gewohnt, die vor dem fürstlichen Neubau auf diesem Grundstück stand. Zur Familie gehört das Gesinde, meist zwei Mägde, und der Famulus, der auch mit für den Haushalt zuständig war. Als das neue Haus 1536 bezogen wurde, war der Sohn Philipp elf Jahre alt, Magdalena fünf. Anna, die Älteste, war mit ihren vierzehn Jahren gerade dabei zu heiraten. Das ganz normale Chaos einer Familie!
Dann war da das Arbeitszimmer des Vaters, genauso geräumig wie die Diele. Jetzt wird es als Melanchthons Sterbezimmer gezeigt. Aber es war alles andere als ein stilles Studierzimmer. Es war ein öffentlicher Raum für Gespräche und Verhandlungen mit Kollegen oder Besuchern. Und auch Melanchthons Sterben fand ja nicht in einem abgeschirmten privaten Bereich statt. Es war ein öffentliches Ereignis, bei dem Professoren der Universität als Zeugen zugegen waren. Da waren die Kinder freilich schon aus dem Hause.
Zum Familienalltag gehörten auch die Studenten, die mit im Hause wohnten, die hier als Privatschüler unterrichtet und beköstigt wurden und die oft aus wohlhabenden oder gar adligen Häusern stammten und deren Raum im zweiten Stock heute noch mit ihren hinterlassenen Wappen geschmückt ist.
Und dann gab es eine Fülle von außerordentlichen Besuchen. Schon in der Zeit der alten Bude interessierten sich die Universitäten aus Frankreich und England für Melanchthon.11 Kamen Gesandtschaften von dort ins Haus? Inzwischen war Melanchthon ja zu einer europäischen Gestalt geworden. Wenn er von Reichsstädten oder Fürsten um Rat gefragt, zur Arbeit an einer Kirchenordnung oder zur Mitarbeit bei der Reform einer Universität eingeladen wurde – wurden diese Bitten nicht durch Boten überbracht?
Melanchthonhaus und Leucorea
Alle kamen sie durch die Diele, und auch das Arbeitszimmer war für die Kinder nicht tabu. Das ganze weltbewegende Geschehen der Reformation – es spielte sich in diesem Haus immer auch vor den neugierigen Augen der Kinder ab.
Es gibt eine wunderschöne Anekdote von Melanchthon, die mich in dieser Annahme bestärkt. „In Melanchthons Arbeitszimmer spielten noch 1555 kleine Mädchen – wahrscheinlich die Enkelinnen Anna (geb. ca. 1552) und Magdalena Peucer (geb. 1554) –, so Melanchthons Schilderung, die er in eine Verlesung einstreute: ‚Ich habe meine Mädchen daran gewöhnt, sich nicht zurückzuhalten zu pinkeln in meinem Arbeitszimmer, wenn ich allein bin; wenn aber Fremde da sind, sollen sie dies auf keinen Fall tun’“.12
Ob die Kinder mit den Scholaren zusammen am Tisch saßen, wie drüben im Schwarzen Kloster bei Luther und seiner Familie? Jedenfalls muss es unter dem Dach dieses Hauses ein buntes Zusammenleben von Kindern und Schülern gegeben haben. Nicht umsonst heiraten beide Töchter Schüler des Vaters.
Es gibt Berichte von Zeitgenossen, die unserer Phantasie weiteres Material liefern und die zu unseren Fragen passen: „Die Zahl der Tischgenossen war wohl immer groß … Mathesius, der 1540 eine Zeitlang an Käthes Tisch speiste, schildert uns auch, wie es damals bei Melanchthons zuging. Da betete vor Tisch Lippus ein lateinisches Gebet, und sein Schwesterchen Magdalena las aus Luthers deutschem Katechismus vor, und dann kamen die Knaben, der eine mit einer Legende, der andere mit der Heiligen Schrift, ein dritter mit einem Abschnitt aus den Evangelien, ein vierter mit dem Livius, der fünfte mit einem alten Griechen, es war wohl Thucydides, der sechste mit dem Psalter, und alle standen um den Herrn Magister Philippus herum, als wäre er ein Orakel, das sie befragen müssten“.13 Schwesterchen Magdalena ist damals neun Jahre alt, Lippus, Melanchthons ältester Sohn Philipp, fünfzehn, und daran schließen sich bruchlos die Knaben an, die Schüler des Vaters.
Zum bunten Leben in diesem Haus gehören auch die düsteren Farben. Georg, das dritte Kind, stirbt 1529 mit drei Jahren. Nach seiner Geburt geht es Katharina sehr schlecht. Der Vater drückt seine Trauer in ergreifenden Worten schriftlich aus: „Nichts war mir jemals im Leben teurer als dieser Knabe. Denn es leuchtete in ihm eine einzigartige Begabung. Welchen Schmerz ich durch den Verlust erlitten habe, kann ich mit Worten nicht ausdrücken“.14 Auch das haben die beiden älteren Geschwister miterlebt.
Ich muss gestehen, dass mir diese Vorstellung gefällt: Kinder nicht abgeschirmt in einer Wohnung mit den Einheitsdimensionen des sozialen Wohnungsbaus oder in einem Einfamilienhaus mit einem Zaun drum, gehegt und gehütet – sondern einbezogen in eine Welt, in der viele Dimensionen des Lebens und der Gesellschaft gegenwärtig sind: sei es im Henkerhaus oder im Haus des Strafanstaltsdirektors oder in Melanchthons Wohnhaus. Deswegen wohl ist das Bild von dieser geräumigen Diele bis heute mit mir gegangen und hat mich zu weiterem Forschen und Fragen angehalten.
Auch hier die Frage: Wie sind die Kinder von Melanchthon und Luther angesehen worden? Sie haben miteinander gespielt.15 Aber Luthers Kinder waren Kinder eines Mönchs und einer Nonne. Sie standen damit im Kreuzfeuer zwischen Altgläubigen und Anhängern der Reformation. Wie ihre Väter und Mütter lebten sie unter verschärfter Beobachtung.
Melanchthonhaus, Diele: das innere Foyer
Das Schwarze Kloster
Wenn man heute durch das Melanchthonhaus geht, dann ist das Schwarze Kloster, Luthers Haus und Wirkungsstätte, allgegenwärtig mit dabei. Das war damals auch schon so. Es gab einen Weg vom Garten hinter dem Melanchthonhaus hinüber zum Klostergarten. Die Kinder hatten es leicht, sich zu verabreden, sich zu besuchen, miteinander zu spielen.16
Aber auch die Väter lebten in einer kollegialen Freundschaft und Nachbarschaft miteinander. Dabei hatte Luthers Haus die größere Attraktion. Es gab Zeiten, da saß Philipp Melanchthon „wochenlang Abend für Abend an Luthers Tische“.17 Wenn Luther und Melanchthon, ihre Ehefrauen und ihre Kinder,