Nach dem Unterricht rief er Melissa zu sich: „Hast du noch mal etwas von Andrea gehört?“ Melissa schüttelte müde den Kopf.
„Nein, leider nichts!“ Paul zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen und sagte: „Pass auf dich auf, Melissa!“ Das Mädchen nickte bang, denn natürlich hatten alle von den vermissten Mädchen gehört. Dann drehte sich Paul um und verließ den Unterrichtsraum.
Am späten Nachmittag untersuchte er alle Reliefs, Bilder und alle zwölf Apostel im Kölner Dom. Nichts. Aber dann unter dem Erzengel Raphael wurde er fündig. Es war nur ein sehr kleines Zeichen, aber es war eindeutig vorhanden, wieder war es unten am Sockel angebracht. Wie nach dem alten Glauben, oben ist der Himmel und unten die Hölle.
Zu Hause vergrub er sich wieder in seine Aufzeichnungen und nahm die Pfarrkirche St. Gereon, eine von zwölf romanischen Basiliken in der Altstadt Kölns, näher unter die Lupe. Die Geschichte von St. Gereon reichte bis in die römische Zeit zurück und war eines von mehreren Doppelklöstern der Prämonstratenser. Der Doppelorden war schwer umstritten gewesen, denn weibliche und männliche Brüder und Schwestern waren unter einem Dach untergebracht, das wurde nicht gerne gesehen. Gegründet wurde der Orden etwa 1121, und 1141 siedelten die Schwestern in ein anderes Kloster um.
Außerdem rankten sich Legenden um den heiligen Gereon von Köln und die Blutsäule. Der untere Teil der Säule steht in einer fast drei Meter hohen Nische. Die Säule ist seit 1794 nicht mehr vollständig, französische Revolutionstruppen sollen sie nach Paris gebracht haben, auf dem Transportweg zerbrach sie und wurde am Wege liegengelassen. Nur der Stumpf wurde in die Pfarrkirche zurückgebracht, mehrere, kleinere Bruchstücke hatten sich mit der Zeit verloren.
Die Säule trägt eine lateinische Inschrift mit folgendem Wortlaut:
„Adde fidem, fuit hic pridem fusus cruor idem
Ad lapidem, si dem me male, punit idem.”
Nach einer alten Übersetzung lautet die Inschrift:
„Schenke mir Glauben, vor langer Zeit wurde hier eben dieses Blut an dem Steine versprengt, zeig’ ich mich übel, er straft.“
Oder in einem Reim ausgedrückt:
„Glaub es:
Rein an diesem Stein soll einst das Blut geflossen sein.
Sollt ich schuldig sein, so ist hier die Strafe mein.“
Also besagte die Säuleninschrift, dass die Stätte als ein Gottesurteil zu sehen war. Wer eine Blutschuld auf sich geladen hatte, der trat vor diese Säule und erwartete seine Strafe oder Rehabilitation. Man brachte Verdächtige oder Beschuldigte vor die Säule, und hier beschworen sie ihre Unschuld.
Doch welches Blut war laut der Inschrift geflossen? War es das Blut der Soldaten der Kölner Abteilung der Thebäischen Legion und ihrem Anführer Gereon, oder wurde die Säule mit dem Blut der Märtyrer durch deren Hinrichtung bespritzt?
In der Sage galt die Säule auch als „die Schreckliche“, da der merowingische König Theuderich II. bei einem Besuch von St. Gereon auf geheimnisvolle Weise ums Leben kam, nachdem er seinen Bruder Theudebert und dessen kleinen Sohn hatte ermorden lassen.
Sein Kopf brummte ob der Gedanken, die ihm parallel zu den Legenden durch den Kopf zogen. Die Kirche St. Gereon wurde im Krieg zerstört und bei einem Wiederaufbau nach dem Krieg wäre es denkbar gewesen, unterirdische und geheime Bauten anzulegen. Ähnlich wie unter dem Kölner Dom, jedoch nicht zugeschüttet, sondern nachträglich angelegt. Aber das war alles spekulativ.
Kurz bevor er müde sein Bett sank, dachte er noch mal an Andrea. Vielleicht sollte er deren Haus beobachten? Irgendetwas lief da schief, nur was?
Eine Studentin von Paul, sie war im letzten Semester und studierte Archäologie und Geschichte, hatte es ihm besonders angetan. Er fand ihre Augen so faszinierend und überhaupt ihre ganze Ausstrahlung. Er mochte sie gerne, sie war eine der Besten und würde einen guten Abschluss machen. Doch er hütete sich, ihr in irgendeiner Weise zu nahe zu kommen, obwohl er schon einige Male in Versuchung gewesen war sie zum Essen einzuladen. Vielleicht konnte er sie einmal nach den Abschlussklausuren treffen. Ihr Name war Susann und er hatte den Eindruck, dass auch sie ihn mochte.
Er schüttelte leicht seinen Kopf, um die Gedanken an Susann abzustellen und schweren Herzens konzentrierte er sich wieder auf den Unterricht. Er musste aufpassen, dass er von seinen Studenten nicht beim Träumen erwischt wurde, denn so etwas bekamen diese gleich spitz. In der Mittagspause ging er zu seinem Wagen und fuhr zum Haus von Andreas Eltern. Er parkte gegenüber und beobachtete das Haus, während er in sein belegtes Brötchen biss, welches er sich mitgebracht hatte. Eine Nachbarin kam vom Einkaufen, ein kleiner Junge mit einem Roller fuhr ständig die Straße auf und ab, aber sonst passierte überhaupt nichts. Seufzend startete er den Motor und fuhr zurück zur Universität. Er nahm sich vor, es noch mal nach dem Unterricht zu versuchen.
Schon seit zwei Stunden saß Paul wieder in seinem Auto und beobachtete das Haus. Diesmal hatte er ein wenig weiter vom Haus entfernt geparkt, er wollte schließlich nicht entdeckt werden. Es dämmerte bereits und er wollte gerade aufgeben, als sich die Haustür öffnete. Er sah das Ehepaar herauskommen und der Vater von Andrea hatte ein unförmig eingepacktes Paket auf dem Arm, welches die Form eines Menschen hatte. Paul stutzte, was war das? Schaute da ein Arm aus der Ummantelung? Die Mutter sah sich ziemlich auffällig nach allen Seiten um und öffnete hektisch die rückwärtige Tür des Autos. Der Vater legte seine eingewickelte Last auf dem Rücksitz ab und schloss die Autotür. Wie der Blitz saßen beide im Auto und preschten los. Paul hatte alle Mühe schnell seinen Wagen zu starten und hinterherzukommen.
Er merkte, dass Andreas Vater den Weg zur Pfarrkirche St. Gereon einschlug. Das wiederum erstaunte ihn sehr und gab ihm erneut Rätsel auf.
Das Ehepaar fuhr um die Kirche herum. Anschließend trugen sie ihr Paket durch einen von Büschen verdeckten, engen Durchgang zur rückwärtigen Kirchenwand. Paul konnte nicht erkennen, was vor sich ging, nur, dass sie ohne das Paket wieder zu ihrem Auto zurückkamen und wegfuhren. Paul stieg aus und ging ebenfalls durch den von der Straße aus nicht einzusehenden Durchgang. Kurz darauf stand er vor einer Mauer, von dem Paket keine Spur. Romanische Bögen verzierten die rote Wand, doch nirgends war ein Eingang. Paul lief an der Mauer entlang und kam wieder zum Ausgangspunkt zurück, irgendwas war hier doch faul. Es wurde inzwischen dunkel und er konnte kaum noch etwas erkennen. So ging er zurück zu seinem Auto und holte eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Er hoffte, dass die Batterien noch eine Zeitlang halten würden. Der Lichtkegel seiner Lampe fuhr jede Ritze und jeden Stein ab und fast übersah er das Zeichen, er schwenkte den Lichtstrahl zurück und ging näher. In einer Mauerritze fand er wieder das keltische Symbol mit dem Satanskreuz in der Mitte. Paul konnte es nicht fassen, durch einen Riesenzufall war er nun hierhergekommen und entdeckte dieses magische Zeichen an einer Stelle, an der er niemals danach gesucht hätte. Er fasste es an, rüttelte und klopfte, es bewegte sich nicht, doch irgendwo musste hier ein Eingang sein. Er suchte weiter und nach wenigen Minuten entdeckte er ein zweites Zeichen, auf gleicher Höhe, nur in einer etwa ein Meter entfernten Mauerritze.
Er steckte sich die Taschenlampe in die Tasche seiner Jacke. Mit beiden Händen gleichzeitig berührte er nun die Zeichen und lautlos glitt ein Teil der Steinmauer wie von Geisterhand zur Seite. Schnell nahm er seine Taschenlampe wieder zur Hand und ging vorsichtig ins Innere, hinter ihm schloss sich automatisch die Steinmauer.
Vor ihm verzweigten sich verwirrend viele Gänge und es gab mehrere Treppen, die nach einem kleinen Bogen einfach an einer Wand endeten, ein Labyrinth wie im alten Ägypten. Paul folgte der einzigen Treppe, die weit nach unten führte, etwas anderes wäre baulich auch nicht möglich gewesen. Er fragte sich jetzt schon, wie er hier je wieder herausfinden würde. Da hörte er plötzlich ein Summen und er folgte dem schmalen Gang, der sich wiederum gabelte. Paul ging nun nach seinem Gehör, das Summen stellte sich als Gesang heraus, ähnlich wie in einer Kirche, aber irgendwie unheimlich. Ganz entfernt, am Ende des Ganges, sah er eine brennende Fackel an der Wand hängen,