Prinz seufzte. Warum musste ihm das ausgerechnet heute passieren? Er hatte noch so viel Material durchzuarbeiten, und die Tagung begann schon am Montag. Er war die alltägliche Kripoarbeit leid, die ihm seit so vielen Jahren schlaflose Nächte bereitete, und hatte sich sofort für die Mitarbeit an der paneuropäischen Taskforce gegen Rassismus und Gewalt im Fußball eingetragen. Kriminaldirektor Schneller höchstpersönlich hatte sein Gesuch abgenickt. Die internationale polizeiliche Arbeitsgruppe sollte im Zuge der ersten Tagung diese Woche hier in Berlin mit Vertretern aus Skandinavien, Großbritannien, Polen, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Spanien, Portugal und Italien gegründet werden. Die Teilnahme der Türkei war noch strittig, aber sicher würden sich die integrationsgeilen Organisatoren durchsetzen, und die Alis würden auch einige Plätze erhalten. Es war besonders wichtig, die Galatasaray- und die Fenerbahçe-Fans unter Kontrolle zu bekommen. Ginge es nach Prinz, bekämen die alle Einreiseverbot in den Schengenraum, dann könnten sie im eigenen Land Randale machen, so viel sie wollen. Bevor er sich so richtig in Rage denken konnte, winkte ihn Lutz Harnack zu sich.
Professor Dr. Lutz Harnack, Berlins Koryphäe der Rechtsmedizin und der an diesem Morgen diensthabende Leiter der KTI 21, der Tatortgruppe, die Spurensuche und -sicherung übernommen hatte, erhob sich neben der Toten. Er streifte die schwarzen Plastikhandschuhe ab und blies etwas wärmenden Atem in seine Hände. Heute sah er noch hagerer aus als sonst. Seine unnachahmliche Frisur ließ die Kapuze seines dünnen, halb offenen Schutzanzugs an der einen Seite ausbeulen, und irgendetwas stimmte nicht mit der dicken Wolljacke, die er darunter trug. Vermutlich war sie wieder einmal falsch geknöpft. Er wirkte irgendwie zerbeult. Doch dass man dieses Buch nicht nach seinem Einband beurteilen sollte, begriff selbst Prinz. Harnack genoss höchstes internationales Renommee auf dem Gebiet der forensischen Pathologie, er war ein gefragter Dozent und geschätzter Wissenschaftler.
Sachlich teilte Harnack dem Kollegen vom LKA 1 seine ersten Erkenntnisse mit. »Hauptkommissar Prinz, die Frau ist seit ungefähr zehn bis vierzehn Stunden tot. Genauer kann ich das wie immer erst sagen, wenn ich sie auf dem Tisch habe. Sie wurde erstochen, der Stich ging in ihre Lunge. Die Eintrittswunde sieht für mich auf den ersten Blick ungewöhnlich aus. Ich denke, das war kein gängiger Messertyp, aber auch hier weiß ich erst mehr, wenn ich mit dem Mikroskop rangehen kann und nachdem ich sie im CT hatte. Ich mache die Obduktion noch heute Abend, dann haben Sie gleich morgen den Bericht.«
Was haben die sich denn alle so? Das ist doch nun wirklich nicht so eilig, dachte Rolf Prinz. Er würde den Bericht sowieso nicht vor Montagabend lesen, vielleicht auch erst am Dienstag, je nachdem, wie der Begrüßungsabend der Fußball-Taskforce verlaufen würde. Er nickte dem Kollegen von der KT zu und ging zurück zum Dienstwagen. »Football’s coming home, it’s coming home«, summte er leise, während er den Sicherheitsgurt um seinen Leib schnallte und Fellner das Zeichen gab loszufahren.
Nach einem späten Frühstück im Stehen – drei doppelten Espresso mit reichlich Zucker – war Glander wie geplant in sein kleines Agenturbüro in Schöneberg gefahren. Dort hatte er einen längst überfälligen Bericht verfasst, ein paar Rechnungen geschrieben, eine erheblich höhere Summe zur Überweisung angewiesen und einige Mails beantwortet. Anschließend war er zu einem kurzen Mittagessen ins benachbarte »I due Emigranti« gegangen, um dann den frühen Nachmittag damit zu verbringen, Telefonate zu führen, online zu recherchieren und sich über Obdachlosigkeit in Berlin zu informieren. Er sprach mit einer Mitarbeiterin der Berliner Tiertafel e.V., die sich eigentlich in erster Linie um die Tiere mittelloser Menschen kümmerte. Aber die Ehrenamtlichen dort besaßen einen sehr unverstellten Blick auf die Menschen in Not. Was Glander im Zuge des Telefonats erfuhr, war alles andere als erbaulich. Als wohnungsloser Mensch fiel man zügig durch die Maschen des viel gerühmten sozialen Netzes. Und alle anderen Bürger der Stadt blendeten diese Art von Leid gemeinhin aus.
Als Glander das Büro am späten Nachmittag verließ, lagen die Straßen der Hauptstadt bereits in der Dämmerung. Anfang Februar hatte beinahe jeder Berliner das dunkle, kalte und schmuddelige Winterwetter satt. Viele Arbeitnehmer gingen im Dunkeln zur Arbeit und legten auch ihren Heimweg in Dunkelheit zurück, sodass sich nach drei Monaten Düsternis jeder nach dem Frühling sehnte. Licht und sprießendes Grün sorgten in der Hauptstadt alljährlich für eine deutlich spürbare Aufbruchsstimmung. Auch Glander freute sich auf länger werdende Tage und steigende Temperaturen.
Er entschied sich gegen den Weg über die Steglitzer Rheinstraße und die belebte Schloßstraße und nahm die schnellere Route über den Stadtring bis zum Steglitzer Kreisel. Das in den Siebzigerjahren errichtete ehemalige Bezirksverwaltungsgebäude war mit dreißig Stockwerken eines der höchsten Gebäude Berlins und eines der eindrucksvollen Mahnmale mangelnder West-Berliner Bauplanungskompetenz. Glander fuhr wie jedes Mal kopfschüttelnd an dem seit Jahren leer stehenden Betonklotz vorbei. Eklatante Fehlkalkulationen hatten 1974 zur Insolvenz des Bauträgers und zur Einstellung der Bautätigkeiten geführt. Die damaligen Bau- und Finanzsenatoren hatten gutgläubig – man munkelte damals, bewusst zu gutgläubig – eine Bürgschaft für das Projekt übernommen, und der Berliner Senat war auf einem gigantischen Schuldenberg sitzen geblieben. Ein Betrugsverfahren gegen die Architektin war ergebnislos verlaufen, und auch die beiden Senatoren hatten nicht belangt werden können. Allein der damalige Berliner Oberfinanzpräsident war vom Amt suspendiert worden. Er hatte der umstrittenen Architektin beruflich und privat nahegestanden. Der Kreisel wurde dennoch fertig gebaut, die Bezirksverwaltung zog ein, und der kleine Steglitzer Wolkenkratzer wurde zu einem unfreiwilligen Symbol der West-Berliner Baupolitik. Probleme bereitete der Betonriese erneut in den Neunzigerjahren, als festgestellt wurde, dass das Hochhaus asbestverseucht war. Nach einer Vielzahl von Gutachten über Sanierungsmöglichkeiten und einer Reihe von Nutzungskonzepten, von denen keines realisiert wurde, stand der gigantische Schandfleck nun seit dem Jahr 2007 leer. Dadurch waren bis zum vergangenen Jahr weitere Kosten für die Stadt Berlin von über drei Millionen D-Mark entstanden. Die meisten Berliner interessierten sich schon lange nicht mehr für das Schicksal des Steglitzer Kreisels, sie waren nur noch verärgert über den Dilettantismus der Berliner Landesregierung.
Während Glander über den Hindenburgdamm nach Lichterfelde Süd fuhr, überlegte er, ob er tatsächlich wieder gegen Rolf Prinz antreten wollte. Der würde Morden an obdachlosen Frauen keine Priorität einräumen, Glanders Einmischung aber keineswegs kampflos hinnehmen, das war sicher.
Gemeinsam mit Merve würde er sich etwas einfallen lassen müssen, um die zu erwartende Mauer des Schweigens im Obdachlosenmilieu möglichst zügig zu durchbrechen. Er rief seine Kollegin an. Sie meldete sich nach dem dritten Klingeln.
»Merve Celik.«
4
Merve Celiks Stimme klang wie die eines weiblichen Tom Waits, dabei spielte sie nie Klavier in verrauchten Bars und trank auch keinen Bourbon. Das heisere Timbre der ehemaligen Beamtin des LKA 1 hatte schon für manch eine Überraschung gesorgt, wenn sie ihrem Gesprächspartner nach einem Telefonat erstmals persönlich gegenübergestanden hatte. Die Stimme passte einfach nicht zu der zierlichen Frau, deren schwarze Lockenmähne oft genug schon allein dazu führte, dass Männer aus dem Konzept kamen, wenn sie sie sahen.
»Hallo, Merve, ich bin’s.«
»Martin! Sag mir, dass wir etwas zu tun haben! Ich flehe dich an! Ich befinde mich in der Mein-Kleines-Pony-Hölle! Wenn ich noch eine Mähne bürsten muss, drehe ich durch. Günay hat eine ganze Koppel voll, und sie sind alle pink und lila und glitzern.« Sie seufzte resigniert.
Glander lachte. Merves Nichten Günay und Gülsen wohnten mit ihrer Mutter, Merves älterer Schwester Sevgi, ebenfalls seit Kurzem in einem Haus im Dürener Weg, das Lea ihnen vermittelt hatte. Sevgi hatte im vergangenen Jahr einen lebensbedrohlichen Angriff ihres Ehemanns überlebt, und das Haus glich nun einem Hochsicherheitstrakt. Alle Türen und Fenster konnten mit Rollläden aus stranggepresstem Aluminium verriegelt werden, und Sevgi trug einen Notrufknopf, der ein Signal an Merves Handy schickte, wenn sie ihn betätigte. Obwohl ihr Ex-Mann bis zum Prozess im März in