Kaum fünfzig Jahre später zog eine weitere schaurige Person ins Berliner Schloss ein: die ebenso gescheite wie ehrgeizige und rachsüchtige zweite Gemahlin des blatternarbigen Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, eine verwitwete Herzogin von Braunschweig-Lüneburg. Die Schwarze Dorothea ging wegen verschiedener unerwarteter Todesfälle und Koliken in der Herrscherfamilie – wahrscheinlich unverdientermaßen – als Giftmischerin in die Geschichte ein. Immerhin starben plötzlich und unerwartet zwei Kurprinzen, und der dritte, überraschend zum Kronprinzen aufgestiegen, hielt sich nach einer höchst unbekömmlichen Tasse Kaffee vorsichtshalber von ihr fern. Dafür stand ihm am Ende seiner Tage noch eine besonders eindrucksvolle Begegnung mit der Weißen Frau bevor.
Ein mutiger Hohenzoller
Etliche Jahre vorher wollte der Oberkämmerer und Saufkumpan des Großen Kurfürsten, Oberst Curt von Burgsdorff, ein trinkfester Mann von unbändiger Stärke, das schleierumwogte Hausgespenst endlich einmal mit eigenen Augen sehen. Er wolle ihm schon Bescheid stoßen!
Wunschgemäß begegnete ihm denn auch, nachdem er eines späten Abends den Kurfürsten zu Bette geleitet hatte, auf einer kleinen Treppe die Weiße Frau. Der erschrockene Oberst fasste sich und rief mit kerndeutsch-adligem Charme »Du alte sakramentarische Hure, du, hast du noch nicht genug Fürstenblut gesoffen? Willst du noch mehr haben?« und stürmte auf die zarte Gestalt ein. Die aber packte ihn mit unerwarteter Kraft am Kragen und warf ihn die Treppe hinunter. Der Kurfürst hörte es poltern, schickte vorsichtshalber jedoch nur den Kammerpagen hinaus, der dem zerschundenen Burgsdorff auf die Beine half. So mutig waren die Hohenzollern, wenn es darauf ankam.
Die Geschichte ist in verschiedenen Versionen und Datierungen überliefert und wird mitunter Burgsdorffs Bruder, dem Oberstallmeister Ehrenreich von Burgsdorff, zugeschrieben, der ein gleichermaßen großer Saufaus war wie Curt. Auch vor dem Dahinscheiden des Großen Kurfürsten trat die Weiße Frau in Erscheinung und zeigte sich diesmal dem Hofprediger Brunsenius gar am helllichten Tag.
Der Schiefe Fritz und die Mecklenburgische Venus
Irrtümlich wird Burgsdorffs Abenteuer gelegentlich mit dem Sohn des Großen Kurfürsten, Preußens erstem König Friedrich I., in Zusammenhang gebracht. Der Schiefe Fritz, wie er auch genannt wurde, war ein stilles, verwachsenes und dementsprechend gehemmtes Kind mit großem Kopf und auffallend großer Nase. Als Dreißigjähriger trat er 1688 die Nachfolge seines berühmten Vaters an, krönte sich dreizehn Jahre später in Königsberg selbst zum König in Preußen und starb 1713. Friedrich war ein gläubiger Fürst, er glaubte nicht nur an Geister wie die Weiße Frau.
Immerhin wurde Friedrichs Aberglaube belohnt: Brandenburg-Preußens erster König war der einzige Hohenzoller, dem die Weiße Frau vor seinem Tode nicht nur virtuell erschien – was ihn zu Tode erschreckte, hatte er ihr doch ein christliches Begräbnis ausrichten lassen. Im Jahre 1709 fand sich nämlich beim Schlossbau in den Fundamenten der früheren Burg ein eingemauertes schneeweißes weibliches Skelett, von dem Friedrich wie alle anderen glaubte, es sei das der Weißen Frau. Er ließ die Gebeine auf dem Domfriedhof beisetzen. Der süße Trost, er habe dadurch das Gespenst zur Ruhe gebracht, erfüllte sich leider nicht.
Das Unheil geschah ein Jahr nach der Geburt und Taufe seines Enkels Friedrich im Januar 1712. Dieser Friedrich, den die Welt einmal als den Großen kennenlernen sollte, war bereits der dritte Enkel, auf den Preußens erster König seine Hoffnungen setzte. Mit der Kinderpflege haperte es im Berliner Schloss offensichtlich. Der erste Thronfolger überlebte den Lärm der Kanonenschüsse bei seiner Taufe nicht, einem zweiten zerdrückte bei gleicher Gelegenheit die überschwere Goldkrone das Köpfchen. Reichlich Kummer also für den selbst von mannigfaltigen Leiden geplagten Monarchen.
Eines Nachmittags ruhte er in seinem Armsessel, als ihn eine grauenhafte Erscheinung aus dem Schlummer riss. Vor ihm stand eine hohe weiße Gestalt mit wild herabhängenden Haaren, die blutigen nackten Arme und Hände gen Himmel gereckt. Das Weib starrte ihn mit irren Augen an, aus denen der Wahnsinn glühte, und warf sich mit Zetergeheul auf ihn. Schreiend überhäufte sie ihn mit Vorwürfen über sein lasterhaftes Leben, bis ihn eine gnädige Ohnmacht erlöste.
Der Schreck, so wird berichtet, verschlimmerte die Krankheit des 55-jährigen Monarchen. Er wurde zu Bett gebracht und verließ es nicht wieder. »Ich habe die Weiße Frau gesehen, ich werde nicht wieder besser werden!«, klagte er. Seine Krankheit dauerte sechs Wochen. Er fühlte selbst, dass sie tödlich war, aber er wollte nicht glauben, dass jene grauenhafte Erscheinung niemand anderes gewesen sei als seine eigene Gemahlin Sophie Luise von Mecklenburg-Schwerin, genannt die Mecklenburgische Venus. Mit ihr war Fritz seit 1708 in dritter Ehe verheiratet. Die 24-jährige Prinzessin galt keineswegs als besonders sittenstreng, wurde angesichts ihres Ehemanns jedoch zur unerbittlichen Lutheranerin, die sich in Andächtelei vertiefte, »bis endlich über dem Grübeln ihr Verstand sich verwirrte, ihre Vernunft zerrüttet ward«. Diesmal war die Geisteskranke der Bewachung und ihren Hofdamen entkommen, durch eine geschlossene Glastür zu ihrem entsetzten Gemahl vorgedrungen und hatte ihn im wahrsten Sinn des Wortes zu Tode erschreckt.
An Friedrichs Gemahlinnen erinnern heute Stadtteile in Berlin: Zu Ehren der zweiten, Sophie Charlotte, trägt Charlottenburg seinen Namen, nach der Mecklenburgischen Venus sollte die nördliche Vorstadt Berlins Sophienvorstadt heißen. Sophie Charlottes Sohn Friedrich Wilhelm I., Preußens prügelnder Soldatenkönig, setzte durch, dass es bei der Spandauer Vorstadt blieb. Die Spandauische Kirche in der Sophienstraße aber heißt noch heute Sophienkirche.
In Sachen Weiße Frau bewies der unrühmlich bekannte Soldatenkönig allerdings einigen Realitätssinn. Er erwischte das Gespenst beim Hemdzipfel und prügelte es mit seinem Knotenstock unbarmherzig durch. Natürlich hatte er den Richtigen ertappt: einen dreisten Grenadier, der in dieser Verkleidung ungestört zu seiner Angebeteten im Flügel der Hofdamen schweben wollte.
Das Ende der Weißen Frau
Gut hundert Jahre lang blieb es still um die Weiße Frau, obwohl sie angeblich 1786, vor dem Tod des Alten Fritz, und elf Jahre später, vor dem seines Neffen Friedrich Wilhelm II., aufgetaucht sein soll. In der Franzosenzeit unternahm das patriotische Gespenst angeblich eine Tournee nach Bayreuth, wo es beinahe Napoleon erschreckt hätte. Vielleicht schon auf dem Weg dorthin erschien die Weiße Frau im Schloss von Rudolstadt dem Prinzen Louis Ferdinand am Vorabend der Schlacht von Saalfeld im Oktober 1806, in der er prompt den Tod fand.
In Berlin erinnerte man sich erst 1840, als Friedrich Wilhelm III. in seinem 43. Regierungsjahr erkrankte, des treuen Schlossgeistes und der traurigen Bedeutung des Jahres ’40 in der Geschichte der Hohenzollern: 1440, 1640 und 1740 waren die jeweils regierenden Herrscher gestorben. Nun erwischte es also Friedrich Wilhelm III., den farblos-nüchternen »zweiten Soldatenkönig«, einen mittelmäßigen, eher bürgerlichen Menschen. »Unser Dämel sitzt in Memel«, hatten die Berliner 1806 nach der Flucht des Königspaars vor Napoleon gelästert. Er wurde an der Seite der hochverehrten Königin Luise (gestorben 1819; auch nach ihr heißt ein Stadtteil in Mitte und Kreuzberg) beigesetzt. Dabei war er seit 1824 in morganatischer Ehe mit der katholischen Gräfin Auguste von Harrach verheiratet.
Von der Weißen Frau war nur noch in der Überlieferung die Rede. Bald sank auch das Schloss in Trümmer, und ein Leipziger Tischlergeselle erteilte den Befehl zum endgültigen Abriss. Ob Walter Ulbricht außer seiner Lotte ein weiteres Gespenst begegnet ist, wenn er auf der Tribüne am Spreeufer die Grüße der jubelnden Massen entgegennahm, ist nicht überliefert. In dem bei Tag und Nacht hell erleuchteten Lampenpalast war es wohl endgültig vorbei mit den guten wie den bösen Geistern, spätestens die Asbestsanierung