Im ersten Gang geht’s immer rauf. Jens F. Meyer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jens F. Meyer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783947944828
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      Projekt 112 – unter diesem Namen begann die Produktion des Renault 4. Die erste „Quatrelle“, wie der Kleinwagen von den Franzosen liebevoll bezeichnet wird, lief offiziell am 3. August 1961 vom Band. Rund vier Wochen vorher war die Produktion der Régie Nationale des Usines Renault auf der Seine-Insel Séguin in Paris-Billancourt vom 4CV, dem sogenannten „Crèmeschnittchen“ oder „Motte de Beurre“ (Butterklumpen), auf den R4 umgestellt worden. Was auch bedeutete, von Heck- auf Frontantrieb zu wechseln. Ein Husarenstück von Renault. Die Erfolgsgeschichte ließ nicht lange auf sich warten, denn der geräumige Kleinwagen war „praktisch und klassisch wie eine Bluejeans“, so der damalige Renault-Generaldirektor Pierre Dreyfus, der 1956 die Weichen für diesen Coup gestellt hatte. Bis 1992 wurde der Fünftürer 8.135.424 Mal gebaut. Damit gehört der R4 zu den erfolgreichsten Autos aller Zeiten.

      Natürlich sind wir froh, ein topfittes Exemplar gefunden zu haben, das von unten übrigens dicht hält, denn zu viele Exemplare sind im Laufe der Jahre im Nullkommanichts kläglich weggerostet; die Hohlprofile des Plattformrahmens korrodierten zunächst weitgehend unbemerkt von innen, um eines schlimmen Tages durchzubrechen. Für die schlampige Hohlraumversiegelung hat Renault von ernst zu nehmenden Autozeitungen und unzähligen Kunden mehr als nur einmal eins auf den Deckel gekriegt. Wir haben deshalb Folgendes getan: Wir haben das Ding sofort nach dem Kauf mit „Mike Sanders“, so heißt ein öliges Zaubermittel, das den Oldtimer frisch halten soll und in jede noch so kleine Ecke fließt, in einer Fachwerkstatt bis in die tiefsten Tiefen der Karosserie versiegeln lassen. Ein Kompromiss fügt sich zum nächsten, manchmal rappelt’s in der Kiste, was nicht bedeutet, dass der R4 eine Klapperkiste ist. Dieses Modell wäre ja nicht über drei Jahrzehnte lang gebaut worden, wenn nicht die Vorteile überwögen. Für Fans sind sie bekannt: vier Türen, große Heckklappe, kleiner, kräftiger und kultivierter Motor und einige andere Stärken. Aber obwohl die Entwicklung des Erfolgsmodells schon so lange her ist, hat noch niemand jemals zuvor darüber geschrieben, dass unter der Rückbank Platz für Schuhe ist! – Das wäre hiermit erledigt. Fünf Paar sind drin. Keine Stiefeletten, aber Halbschuhe, Sandalen, Pumps, Pumps und Pumps. Das mag nur eine Nuance sein im Gesamtpaket, aber sie soll exemplarisch dafür stehen, wie clever der hier vorhandene Raum genutzt werden kann. Ein Auto, in dem genug Schuhe für Madame unterkommen, ist ein gutes Auto. Auch für Monsieur.

      Wir sind keine Schrauber. Wenn also im Handbuch „Jetzt helfe ich mir selbst“ (Dieter Korp) steht, dass „der Thermostat, der neben der Wasserpumpe in einem Metallstutzen steckt, der gleichzeitig den Anschluss für das kurze Schlauchstück zum Kühler bildet“, dann müssen wir lange und gründlich in den Motorraum schauen und mit dem Finger der Beschreibung nachgehen. Wenn die Rede davon ist, die hintere Bremstrommel abzubauen, wo eine versplintete Nabenmutter zum Vorschein kommt, die entsplintet und abgeschraubt werden muss, um die Unterlegscheibe herauszunehmen und die Bremsbacken nach innen zu stellen, dann müssen wir zuallererst ganz schrecklich lachen, denn dies ist für uns schlicht nicht möglich; es übersteigt unser technisches Verständnis und unsere handwerklichen Möglichkeiten um ein Vielfaches. Wir sind in der Lage, Flüssigkeiten zu prüfen, Glühbirnen auszutauschen und bei einer Panne den Reifen zu wechseln, aber viel mehr können wir nicht. Wir haben uns dieses Auto deshalb relativ teuer in einem Topzustand gekauft, um einfach drauflos fahren zu können, anstatt in der eigenen Garage erst noch jahrelang Radkästen auszubauen, Steuergehäusedeckel zu kontrollieren, zu entrosten, zu kitten, zu verdrahten, zu verkabeln. Das ist nicht unsere Welt. Im Bekanntenkreis halten das einige bis heute für eine ziemlich abstruse Idee. „Ihr seid verrückt geworden. Was macht ihr denn, wenn ihr eine Panne habt“, haben sie gesagt, und wir gaben ihnen zu verstehen, dass wir im Falle eines Falles das tun, was wir auch bei einem anderen Auto tun würden: Hilfe anfordern, wenn wir uns selbst nicht helfen können. Es gibt da dieses zauberhafte Beispiel des kaputten Leuchtmittels in einem Mittelklassewagen, gehobener Standard, linke Front. Um die bescheuerte Birne auswechseln zu können, muss die gesamte Frontschürze abgenommen werden. Ist dies geschehen, droht sogar erfahrenen Kfz-Mechanikern, dass sie sich die Finger stauchen. Fällt bei dieser im Spaltmaß auf Nanometer getrimmten hypermodernen Droschke unterwegs in Frankreich das Licht aus, schaut das Auto düster und der Fahrer dumm aus der Wäsche. Fällt es beim R4 aus, bemühen wir einfach nur den Kreuzschlitzschraubenzieher oder in Ermangelung dessen auch ein olles Taschenmesser und erledigen ruckzuck, wofür der Mittelklassewagen des 21. Jahrhunderts in die Werkstatt gefahren werden muss.Wer also hat das größere Risiko?

      Und nein, wir fühlen uns nicht unsicher! Es ist eine schiere Blechbüchse, das stimmt. Sie hat keine Airbags, das stimmt auch. Es gibt weder Spurhalteassistent noch Antiblockiersystem, da sind kein Müdigkeitswarner und kein elektronisches Stabilitätsprogramm eingebaut, es fehlt an Ambiente-Beleuchtung, Lenkradheizung und Lendenwirbelstütze. Je länger die Aufzählung aller möglichen technischen Raffinessen heutiger Automobile wird, desto mehr verneigen wir uns vor unseren Eltern, die mit dem Volkswagen an die Ostsee und im Goggomobil über den Brenner geheizt sind, während wir Kinder hinten saßen und bei Tempo vierundachtzig den Rausch der Geschwindigkeit genossen. Uns fällt wirklich kein guter Grund mehr ein, um nicht mit der Quatrelle nach Frankreich zu fahren, und uns blutete das Herz zu erfahren, dass zwischen Anfang 2009 und Mitte 2010 laut Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle 54 wackere Renault 4 in Deutschland zugunsten der Umweltprämie abgewrackt wurden! Eine schreckliche Tat. Es kann ja sein, dass in dem einen oder anderen Fall nichts mehr zu retten war, aber die Erfahrung ist eigentlich eine andere.

      Schande!

      Und das ist der Grund, weshalb ein Funken Melancholie auf Reisen immer über uns glimmt. Wie schön waren doch die Zeiten dieses Autos. Über 8,1 Millionen Renault 4 wurden gebaut, als Limousine, als Kastenwagen in kurzer und in langer Variante, als „Plein-Air“-Cabrio, Pick-up und sogar mit Allrad-Antrieb für Jäger und Rallyepistenpiloten. 695 Kilogramm beträgt das Leergewicht einer normalen Quatrelle, während das zulässige Gesamtgewicht bei 1070 Kilogramm liegt. Das bedeutet, dass der Wagen eine Zuladung schluckt, die locker halb so schwer sein darf wie sein eigenes Gewicht. Der Plattformrahmen mit vorderen und hinteren Längsträgern dürfte daran seinen Anteil haben. 3668 Millimeter ist der R4 kurz, aber lang genug, um darin eine Reise zu unternehmen, die an Merkwürdigkeiten und Abenteuern nicht zu überbieten ist – schon mal gar nicht im Mutterland dieser munteren Möhre mit ihrem knusprigen Fahrgeräusch aus vier Töpfen und 34 Pferdestärken. Ein erlesenes Erlebnis – im wahren Wortsinn für alle, die hier und jetzt auf dem Rücksitz Platz nehmen. Machen Sie sich’s bequem.

      Allons-y, Quatrelle, allons-y!

      .

      Wir brechen auf. Der Motor läuft. Die Pizza schmeckt.

      Es ist so weit, wir tun es tatsächlich! Jeder, der davon erfährt, hat auch gleich eine Meinung parat. Die lautet in den meisten Fällen: „Ihr seid ja vollkommen wahnsinnig.“ Oder: „Da kommt ihr ja niemals lebend wieder nach Hause.“ Oder: „Ach, ein wenig Luxus muss im Urlaub schon sein, und ich brauche eine Klimaanlage.“ – Alles Angsthasen, die das große Ganze nicht sehen, so viel steht fest. Ab und zu nagt ein kleiner Zweifel in der Vorbereitungsphase auch an uns, aber das hat doch jeder große Abenteurer! Der Termin rückt näher, es ist Frühling, wir besuchen unseren strengen Autoschrauber. Nach Erläuterung des Plans – „also erst mal Richtung Frankreich, dann einen großen Bogen um Paris, sozusagen durch die Picardie, Normandie, Bretagne, das Loire-Tal, Burgund, Champagne und Ardennen, über Belgien wieder retour oder andersherum“ – schaut der Mann erschöpft drein. Ohne langes Federlesen wird eine Komplettinspektion durchgeführt. Als Weggeschenk erhalten wir eine kleine Glühbirnenbox zur Selbsthilfe beim Leuchtmitteltausch. Super, vor allem, weil keiner von uns beiden jemals irgendeine Lampe an irgendeinem Auto gewechselt hat. Sehen wir da etwa ein leichtes Zucken in den Mundwinkeln des grimmigen Meisters? Zu diesem Zeitpunkt wissen wir jedenfalls noch nicht, dass wir ihm noch dankbar sein werden für sein Präsent.

      Der nächste Weg führt uns zu einem Fachgeschäft für Koffer, Taschen und Rucksäcke. Wir parken direkt auf dem Hof vor dem Hintereingang und treiben den Inhaber in den Wahnsinn, weil die Taschen zentimetergenau in den Gepäckraum passen und auch farblich gut abgestimmt sein sollen. „Nein, die da ist es nicht … nein, die auch nicht. Holen Sie doch bitte noch mal die von vorhin … ja, nein, vielleicht.“ – Der Mann ist verzweifelt, rennt rein ins Geschäft, kommt