Ich gab das Studium des Geistes auf und verlegte mich ausschließlich auf die Molekularmedizin. Ich hatte vorgehabt, Internist zu werden, da sich dieses Fachgebiet mit der „Wirklichkeit“ (dem physischen Körper) beschäftigt und die Erfahrungen des erwachsenen Körpers in den meisten Aspekten erfasst. Dadurch erhoffte ich mir, die Entschlüsselung meines Wesens weiter vorantreiben zu können.
Aber dieses Unternehmen ließ sich nicht besonders gut an. Wenn meine Erkenntnisse tatsächlich aussagekräftig sein sollten, dann befriedigten sie mich nicht sonderlich. Fast meine ganze Ausbildungszeit verbrachte ich auf der Intensivstation, wo hauptsächlich Schwerkranke lagen. Die meisten Patienten, die zum Internisten kamen, hatten chronische, stetig fortschreitende Krankheiten. Bei 80 Prozent der Patienten schien sich der Zustand kontinuierlich zu verschlechtern. Ich konnte die Verschlechterung lediglich hinauszögern und den Menschen das Leben vor ihrem unvermeidlichen Tod etwas erträglicher machen. Manchen schien die Therapie jedoch sogar zu schaden. Studium und Praxis der inneren Medizin standen für mich ganz unter dem Zeichen der Vergeblichkeit und deprimierten mich.
Frustriert suchte ich nach einem anderen Fachgebiet. Während meines Studiums war die Pathologie mein Lieblingsfach gewesen. Pathologie bedeutet wörtlich Lehre von den Krankheiten und ist die Wissenschaft der Medizin. Sie berührt sämtliche Spezialgebiete und ist die Basis für das Verständnis ihrer Praktiken. Somit schien mir die Pathologie die ultimative Herangehensweise zum Verständnis meiner selbst zu bieten, denn sie befasst sich ja höchst unmittelbar mit der anatomischen und molekularen Struktur und Funktion des Körpers. Außerdem bleiben ihr einige der in der inneren Medizin unvermeidlichen Enttäuschungen erspart. Der Pathologe ist immer erfolgreich. Er kann die Krankheit oder den anatomischen Befund benennen und somit eine Diagnose stellen. Wenn es kein Heilmittel für die diagnostizierte Krankheit gibt, muss der Internist damit zurechtkommen.
Die Praxis der Pathologie führte mich aber auch nicht zum ersehnten Ziel. Ich sezierte viele Herzen - und fand kein Gefühl. Ich sezierte und studierte viele Gehirne - und fand keinen Gedanken. Ich brachte einiges über Krankheiten und tote Körper in Erfahrung, aber meine Erkenntnisse waren im besten Fall entmutigend. Die schlimmsten Erfahrungen kamen nicht von den toten Körpern, sondern von den sterbenden. Im Krankenhaus sah ich leidende Menschen mit runzeligen Körpern und kaum bzw. gar nicht mehr funktionierenden Gehirnen. Mir war klar, dass auch sie einmal in ihren „besten Jahren“ gewesen waren - so wie ich es damals hätte sein sollen. Nun waren sie am Ende, und sie litten. Warum? Was für einen Sinn hatte das alles? Das Leben schien mir eine Art grausamer Posse zu sein.
Der Versuch, mich selbst zu entdecken, zeigte keine glücklichen Ergebnisse. Er deprimierte mich nur.
Kapitel 2
Selbstfindung
Während ich noch nicht wusste, wer ich war, beschäftigte ich mich auch damit, mich selbst zu erschaffen. Es genügte mir nicht, einfach nur zu sein. Ich wusste, ich war Vernon Sylvest, der Sohn von Vera und Edwin Sylvest, ein menschliches Wesen männlichen Geschlechts. Aber das war nicht genug. Ich brauchte andere Maßstäbe, mit deren Hilfe ich mich definieren konnte. Ich suchte nach der Definition eines wertvollen, wichtigen und geachteten Selbst, denn im Geheimen glaubte ich nicht daran, wertvoll und achtenswert zu sein. Dies war mit Schuldgefühlen verbunden und diese wiederum mit Ängsten, also keineswegs mit Glücksgefühlen. Wenn ich so werden könnte, dass mich die anderen akzeptierten, würde ich mich dadurch als würdig erweisen. Dann wäre ich endlich glücklich - glaubte ich.
Wenn wir nicht wissen, wer wir sind, werden wir immer auf die eine oder andere Weise versuchen, uns selbst zu definieren oder zu erschaffen. Nachdem ich einen beträchtlichen Teil meines Erwachsenenlebens damit zugebracht habe, mich zu erschaffen, kann ich jetzt sagen, dass dies unmöglich ist. Wir werden damit immer scheitern und enttäuscht werden. Wir können uns nicht erschaffen, weil wir schon erschaffen sind. Doch wir versuchen es, und der Markt profitiert davon. Viele kommerzielle Unternehmungen, die Milliarden von Dollars kosten, kämen sonst nie zustande. Für die Erschaffung des Selbst wird viel mehr Geld ausgegeben als für die Entdeckung des Selbst.
Wir versuchen, uns nach den Maßstäben derer zu erschaffen, die wir achten gelernt haben oder in deren Abhängigkeit wir durch unsere Erziehung geraten sind. Was uns als gut und lohnend erscheint, wird am unmittelbarsten von unserer Familie und unserem Freundeskreis und im weiteren Sinne von unserer Kultur im Allgemeinen bestimmt. Wir lernen, dass wir „jemand“ sind, wenn wir uns auf eine bestimmte Weise verhalten.
Mein Vater war hochgebildet. Er war Doktor der Theologie und Magister der Psychologie, und meine Eltern sprachen oft von seinen Leistungen und vom Wert der Bildung. Über alle, die keine Bildung besaßen, sprachen sie eher herablassend. Es stand von Anfang an fest, dass ich am College und dann noch weiter studieren musste. Ich machte meinen Collegeabschluss mit sämtlichen Auszeichnungen. Dann studierte ich Medizin und schloss auch dieses Studium mit allen Auszeichnungen ab, die man nur erwerben kann. Nach der Promotion ging es weiter mit der Spezialisierung zum Pathologen. Doch richtig glücklich wurde ich dabei nicht. Es gab immer noch etwas, was ich erreichen musste, damit mich meine Selbstzweifel nicht einholten. Ich hatte Schuldgefühle, auch wenn ich oft nur Langeweile empfand. Langeweile ist im Grunde eine subtile Form der Depression, der erste Hinweis auf mangelnde Lebensfreude und damit auf verdrängte Schuldgefühle.
Mein Vater war methodistischer Geistlicher, und ich war bestens vertraut mit den moralischen Prinzipien eines tugendhaften Lebens. Der Wert eines Menschen bestimmte sich nach dessen moralischer Korrektheit. Deshalb führte ich ein diszipliniertes, streng moralisches Leben. Ein Buch über meine Jugend und mein Leben als junger Erwachsener wäre sicherlich nicht besonders aufregend, doch in meiner Phantasie gab es genug Stoff für einen weniger harmlosen Roman.
Das Wichtigste war die Bestätigung durch andere. Wenn es Leute gab, die mit mir befreundet sein wollten, konnte man davon ausgehen, dass ich irgendwie „in Ordnung“ war. Also war es wichtig, ein gesellschaftliches aktives Leben zu führen. Am allerwichtigsten war es, eine Frau zu haben - einen Menschen, der mich mehr als alle anderen liebte. Sie musste mich so sehr lieben, dass sie mir den Rest ihres Lebens anvertraute und Kinder mit mir haben wollte. Dieses Ziel hatte ich mir schon früh gesetzt. Da ich mir meines eigenen Werts nicht sicher war, ging ich im zweiten Collegejahr - ich war damals in einer Verbindung - mit einer Studentin aus dem ersten Studienjahr aus, die so begabt war, dass sie die letzte Klasse in der Highschool überspringen konnte und schon als 16-jährige ins College kam. Damit war mir doppelt gedient: Eine kluge Freundin würde meinen Wert bestätigen, und da sie so jung war, konnte ich ihr noch imponieren. Nach meinem dritten Collegejahr willigte sie in die Heirat ein.
Nachdem ich nun eine Frau hatte, die sich mir anvertraut hatte, brauchte ich Kinder, die mich abgöttisch lieben sollten. Eine derartige Bestätigung musste sicherlich eine Quelle großen Glücks sein. Aus meiner Sicht waren Töchter am besten, da sie den Vater mehr lieben, als Söhne dies können. Wir bekamen drei Töchter.
Es war mir auch wichtig, körperlich fit, männlich, konkurrenzorientiert und erfolgreich zu sein. Dies ließ sich durch sportliche Betätigung erreichen und erwies mir gute Dienste in der Highschool, doch glücklich machte es mich auch nicht. Und da in meiner Familie so viel Wert auf schulische Leistungen gelegt wurde, opferte ich den Sport der Gelehrsamkeit am College. Die Zurschaustellung körperlicher Stärke blieb aber weiterhin eine wichtige Quelle meines persönliches Stolzes.
Natürlich spielten auch Geld und das Materielle eine gewisse Rolle. Gegen diese kulturellen Einflüsse war ich trotz meines streng puritanischen Hintergrunds keinesfalls gefeit. Als Pfarrersfamilie waren wir zwar geachtet, aber arm. Da mir die ständigen Geldsorgen meiner Eltern die Armut nicht als Tugend darstellten, freute ich mich auf die wirtschaftlichen Vorteile einer medizinischen Laufbahn.
Kapitel 3
Das Leben und seine Herausforderungen
Es sah so aus, als würde es mir an nichts fehlen: Ich hatte eine höhere Schulbildung, einen respektablen Beruf und Geld. Ich hatte eine Frau, Kinder und Freunde. Einen kräftigen, männlichen Körper und gute