In der Sonntagsschule für die Kinder in der Gemeinde Speichersdorfer Straße, die parallel zum Gottesdienst für die Erwachsenen war, erzählte Onkel Fritz, der Bruder von Opa, wunderbare Geschichten und zeigte dazu schöne Bilder. Und heute – zu Ostern – war die Geschichte besonders ergreifend, denn Jesus war auferstanden von den Toten und darüber freuten sich alle. Hanna kannte zwar die Geschichte, aber Onkel Fritz erzählte so schön. Oft bekamen sie auch kleine Bilder geschenkt, über die sie sich ganz besonders freuten, denn sie wurden in einem kleinen Buch, das extra dafür geschaffen worden war, gesammelt. Wenn die Kinder also regelmäßig in die Sonntagsschule kamen, hatten sie auch eine komplette Bildersammlung für die biblischen Geschichten. Eifrig wurden auch manchmal zu den Festlichkeiten in der Kirche Gedichte gelernt, die die Kinder vor der ganzen Gemeinde vortragen durften. Das Herzchen schlug dann zwar bis zum Hals, aber Onkel Fritz saß immer in der ersten Reihe und half, falls einer nicht weiter wusste. Besonders schön klangen auch die Lieder mit Harmoniumbegleitung. Die Kinder sangen aus voller Kehle mit, achteten aber immer auf den Mund von Onkel Fritz, denn der kannte den Text. Aber mit der Zeit prägten sich die Lieder ein, ohne dass die Kleinen lesen konnten. Stolz hielt aber jedes Kind das Kinderliederbuch „Das Singvöglein“ in der Hand und erkannte die Lieder an den dazugehörigen Zeichnungen. Besonders gern sang Hanna das Lied:
Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin
Über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten,
der mich liebt und der mich kennt und bei meinem Namen nennt.
Das Stillsitzen in der Kirche war trotzdem für Hanna eine Qual, war sie doch ein so temperamentvolles Kind. Darum wurde der Weg nach Hause als Wettlaufstrecke genutzt, obwohl sie immer nur bis zur nächsten Ecke laufen durften. Aber es war ja so befreiend, nach dem langen Sitzen laufen zu können.
Bis das Mittagessen Zuhause fertig war, durften die Kinder noch ein bisschen im Hof spielen. Manchmal hatte Hanna Pech und kam mit einem Loch im Strumpf oder einem schmutzigen Kleid in die Wohnung. Dann kam ein Donnerwetter auf sie herab und sie war traurig über sich, dass sie ihrer Mutti nun wieder Arbeit bereitet hatte. Aber dann kehrte wieder Ruhe ein, wenn alle am Tisch saßen und gemeinsam das Gebet sprachen.
Am Dienstag nach Ostern war es endlich so weit: Die Mutti steckte in einen Ranzen eine Schiefertafel, an der ein nasser Schwamm und ein trockener Lappen hingen, einen Griffelkasten, in dem zwei gespitzte Schiefergriffel lagen und das Lesebuch. Eine Schnitte Brot vervollständigte die Ausrüstung. Schwamm und Lappen hingen an der Seite aus dem Ranzen heraus und baumelten munter umher. Die Schiefertafel klapperte beim Gehen. Hanna fühlte sich durch den Ranzen gleich viel größer. Die Mutter ermahnte liebevoll: „Hanna, sei vorsichtig mit deinem Ranzen und der Schiefertafel, wir können so schnell nichts Neues kaufen! Sei auch vorsichtig auf der Straße und höre, wenn Lisbeth dir etwas sagt!“
Innerlich sträubte sich Hanna gegen diese Worte, denn sie war ja jetzt auch schon groß, und immer wurde Lisbeth als Vorbild hingestellt. Aber gehorsam nahm sie die Hand ihrer Schwester und gemeinsam machten sie sich auf den Weg.
Wie ein Klassenzimmer auszusehen hatte, wusste Hanna ja schon von ihrer Schwester. Und so war es auch: Für den Lehrer gab es ein hohes Schreibpult, auf dem Kreide und ein Rohrstock lagen. Eine große dunkle und zugleich geheimnisvolle Tafel stand den Schülern gegenüber und wartete darauf, dass sie beschrieben wurde. Die Schulbänke waren alt und stabil und hatten sicher schon vielen Kindergenerationen als Sitz- und Arbeitsfläche gedient. Gleich neben der Türe stand ein eiserner Ofen und daneben ein Eimer mit Holz und Kohlen. An der Wand hing in einem würdevollen Rahmen das Bild Kaiser Wilhelm I. Ehrfurchtsvoll setzte sich Hanna gleich in die erste Bank. Leider konnte sie nicht mit dem Stuhl kippen, denn die Sitzfläche war mit der Schreibfläche verbunden. Am oberen Teil der Schreibfläche war ein Tintenfass unter einem Deckel verborgen. Das brauchten aber nur die Großen, denn sie schrieben nicht mehr auf der Schiefertafel, sondern auf richtigem Papier. Wenn sie dann lange genug geübt hatten, mit Bleistift zu schreiben, durfte die Tinte zusammen mit einem Federhalter benutzt werden. Der Hausmeister war dafür verantwortlich, dass immer genug Tinte in den kleinen Fässchen mit den Deckeln enthalten war. Hanna kontrollierte gleich, ob das auch wirklich so war. Aber bis sie selbst mit Tinte schreiben durfte, musste sie noch zwei Jahre warten.
Nach dem „Guten Morgen, Kinder! – Setzen!“ hagelte es auch gleich Anweisungen zum Verhalten. Darum saßen alle Kinder zunächst wie angenagelt auf ihrem Platz. Der Lehrer sah drohend aus: Er hatte zwar auch wie der Papa einen Schnurrbart – einen Kaiserschnautzer –, aber die Augen waren nicht so freundlich und verständnisvoll, sondern streng und fordernd.
Hannas erster Eindruck war: Bei dem Lehrer muss ich artig sein, sonst lerne ich den Rohrstock kennen. Gerade hatte sie das gedacht, da sagte er das auch schon: „Kinder, bei mir herrscht Ordnung! Wer nicht spurt, bekommt meinen Rohrstock zu spüren!“ Alle Kinder duckten sich ab. Nun wurde der allgemeine Ablauf trainiert: „Wenn ich in die Klasse komme, steht ihr sofort von euren Plätzen auf und antwortet mir ‚Guten Tag, Herr Lehrer.‘ Es heißt auch nicht einfach ‚Ja‘, sondern ‚Jawohl, Herr Lehrer!‘ Sagt einer von euch etwas unaufgefordert, also plachandert er, so steht er für den Rest der Stunde in der Ecke. Wenn ich einen von euch etwas frage, so steht er auf, stellt sich neben die Bank und antwortet mir klar und laut. Wenn einer etwas sagen will, so bleibt er artig auf seinem Platz sitzen und hebt die Hand, bis ich ihn aufrufe. Hat einer von euch die Arbeiten nicht ordentlich gemacht, so muss er das üben, also jede Zeile fünfzigmal schreiben, damit er es lernt. Habt ihr mich verstanden?“ Wie trainiert antworteten die Kinder: „Jawohl, Herr Lehrer!“ Hanna rutschte immer tiefer. Das konnte ja heiter werden. Und darauf hatte sie sich gefreut? Doch nach dieser Moralpredigt ging es endlich mit der Schule los, denn sie wollte ja lesen, schreiben und rechnen lernen.
Und schon kam das Kommando: „Alle nehmen die Tafel und den Griffelkasten aus dem Ranzen. Jeder nimmt den Griffel in die rechte Hand! Wir schreiben ein A. Seht alle her, wie ich es mache.“ Noch eingeschüchtert versuchte jeder sein Bestes. Die Griffel quietschten und kratzten auf den Tafeln, denn jeder drückte mit voller Kraftanstrengung den Griffel auf die Schreibfläche. Je mehr sich Hanna Mühe gab, desto lauter war der Stift zu hören. Dann ging der Lehrer durch die Reihen und kontrollierte - auch Hanna. „Was hast du denn da für ein Gekritzel gemacht?“ Er nahm den Schwamm, der ja an der Seite herunter baumelte und wischte die ganze Mühsal einfach fort. Nun stand überhaupt nichts mehr auf der Tafel! Ihre ganze Arbeit war umsonst gewesen. Ihr standen die Tränen in den Augen. Sie hatte sich doch so große Mühe gegeben, besser konnte sie es nicht. Zu allem Überfluß sagte er auch noch: „Sieh her, so wird das geschrieben! Zuhause kannst du üben und die ganze Tafel mit dem Buchstaben vollschreiben.“ Er zog ein kleines Notizbuch hervor, notierte den Namen von Hanna und überließ sie ihren traurigen Gedanken und Empfindungen. Sie wusste jetzt schon: diese Schule gefiel ihr nicht, da war die Sonntagsschule in der Kirche viel schöner. Da konnte sie den Geschichten lauschen und Lieder singen, die so schön waren. Verträumt dachte sie gerade daran, als sie vor ihren Augen auf der Bank den Rohrstock niedersausen hörte. „Hanna, träume nicht, schreibe lieber!“ Aber – Gott sei Dank – die Schulglocke wurde vom Hausdiener gerade geläutet.
Zuhause erzählte sie der Mutter alles, was sie erlebt hatte, und zeigte traurig ihre Tafel. Tröstend hörte sie die Mutter sagen: „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Setz dich gleich hin und schreibe so schön, wie es nur irgend geht.“ Dabei strich sie ihr liebevoll über die Haare und lächelte sie freundlich an. „Ich schaue mir deine Arbeit an, wenn du fertig bist, und dann können wir ja immer noch ein paar Zeichen erneuern.“ Die tröstenden und aufmunternden Worte von der Mutter hatten Hanna gut getan. Doch traurig malte sie Buchstabe für Buchstabe. Sie gab sich die größte Mühe beim Schreiben, aber ihr A war nicht so schön wie das vom Lehrer, das wie ein Vorbild leuchtete.
Draußen war herrliches Wetter zum Spielen. Die anderen Kinder waren alle schon im Hof oder auf der Straße.
Doch mit der Zeit gewöhnte sich auch Hanna an die Schule mit ihrer strengen Ordnung. Zuhause hatte sie immer genug Auslauf und konnte mit den anderen Kindern im Wirtschaftshof und im Garten prima spielen.
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