Die Zeit bis zum Kinobeginn vergeht in Sekundenschnelle. Alles, worüber wir uns unterhalten, ist wichtig und interessant, erzählt es doch vom Leben des anderen.
Ich bin bis zu diesem Zeitpunkt bisher nur selten im Kino gewesen, weil ein Kinobesuch in meinem Elternhaus als Luxus betrachtet wurde, obwohl eine Karte höchstens 1,80 M kostete. Und so war diese Vorstellung für mich eine Besonderheit. Zuvorkommend nahm Gerd mir an der Garderobe den Mantel ab und bezahlte (mit Trinkgeld!) die Gebühr. Er gab - ganz Kavalier - der Platzanweiserin die Karten, die uns unsere Sitzplätze höflich und freundlich zuwies. Er sah in seinem grauen Sakko, der dunklen Hose und dem dunklen Schlips feierlich, sportlich und elegant aus. Ich kam mir vor wie eine Prinzessin, die mit ihrem Prinzen im Theater placiert wird. Neugierig schaute ich mich um: alle Besucher unterhielten sich in gedämpftem Tonfall, waren etwas feierlich gekleidet, gut frisiert und machten ein wichtiges Gesicht, da der Film ein Menschenschicksal darstellte und sich jeder als kulturinteressiert einschätzte. Die Kinobesucher waren bunt durcheinander gewürfelt: junge und ältere, vorwiegend aber ältere, weil der Film ja weniger Unterhaltung, aber dafür mehr Informationen enthielt.
Doch was viel wichtiger war: Ich saß neben ihm. Ich fühlte seine Nähe, seine Wärme. Ich war glücklich. Meine bisherige Aufregung wich allmählich einem wohligen Gefühl der Geborgenheit. Die hektische Geschäftigkeit und Spannung wich einer inneren Zufriedenheit und Ruhe.
Nach dem dritten Gong verdunkelte sich das Licht, der schwere, dunkelrote Samtvorhang schob sich zur Seite. Nach den obligatorischen Werbebeiträgen und der Wiederholung von Gong und Lichtdimmer fing der Film endlich an.
Wir sahen einen ärmlich gekleideten jungen Mann als Lehrling in der Kunsthändlerausbildung, der recht unglücklich in seinem Beruf war. Danach versuchte er sein Heil als Prediger in einem Bergbauzentrum. Doch was sollte das mit dem berühmten Maler zu tun haben?
Unsere Blicke fanden sich auch im Dunkeln des Kinosaales und fragten gegenseitig: Gefällt dir das? Und so ist es nicht verwunderlich, dass unsere
Aufmerksamkeit anfänglich gequältes Interesse heuchelte, denn das war sogar nicht unsere jetzige Welt, in der wir uns befanden. Aber so ungelegen kam uns diese Situation gar nicht, denn somit hatten wir Zeit und Gelegenheit, die Zweisamkeit besser zu spüren.
Doch dann kam etwas: Van Gogh begann aus eigenem Gefühl heraus zu malen, ohne dass ihm jemand gezeigt hätte, was er alles berücksichtigen muss. Nach so allerlei Versuchen und einem ärmlichen Leben zieht er zu seinem Bruder nach Paris. Hier verändert sich sein Stil dahingehend, dass seine dunklen, düsteren Bilder in grell-leuchtende Farbgebung wechseln. Das gefiel uns schon etwas besser. Und als schließlich Van Gogh aus seiner Krankheit heraus einen Selbstmordversuch machte und er später in völliger Armut starb, flossen bei mir die Tränen und ich schluckte kräftig, damit es nicht so auffiel. Gerd hatte natürlich auch mit seinen Gefühlen zu kämpfen. Er zeigte es mir aber dadurch, dass er die eine Hand festhielt und die andere streichelte. Das tat ja so gut! Doch als das Licht wieder eingeschaltet wurde und sich der Vorhang schloss, sah ich immer noch verheult aus. Und ich schämte mich. Doch Gerd sah mich liebevoll an, zog aus seiner Hosentasche ein Taschentuch hervor und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.
Da war der Bann gebrochen: ich konnte wieder lächeln und fühlte mich verstanden in meinen Gefühlen. Und dann bemerkte ich auch in seinen Augen Spuren der Rührung aus der Filmhandlung. An der frischen Luft waren dann alle Gefühlsausbrüche vergessen.
Doch eins hatte der Film bei uns neben der Information bewirkt: wir waren uns sehr nahe gekommen. Ich wusste nun: das war kein „Hans-Dampf-in-allen-Gassen“, sondern er konnte seine Gefühle genauso zeigen wie ich. Für mich war das nicht nur ein Kinobesuch schlechthin gewesen, sondern ein erstes starkes Band des sich Kennenlernens und Verstehens. Wir waren jetzt nicht mehr nur zwei ehemalige Schüler, die sich kannten, sondern mit unseren Gefühlen miteinander verbunden.
Das zeigte sich dann auch äußerlich darin, dass Gerd mich jetzt öfter besuchte, ohne dass ich für ihn etwas schreiben sollte. Mir war es mehr als recht.
Doch damit begannen auch einige Probleme:
Ich wohnte von Montag bis Sonnabendmittag mit meiner Schwester in einem möblierten Zimmer in Gotha. Nach der Arbeit fuhren wir mit der Waldbahn nach Hause zu unseren Eltern nach Friedrichroda.
Und damit stand fast täglich Gerd zum Dienstschluss vor der Volkshochschule, um mich abzuholen und „nach Hause“ zu bringen. Der gemeinsame Weg durch den Park wurde heißersehntes Tagesziel. Und so wurden auch die Wege immer verschlungener und weitläufiger, so dass ich immer später bei meiner Schwester eintraf. Da sie schon sehr früh mit ihrer Arbeit als Buchhalter begann (sie musste schon um 5 Uhr aufstehen), war natürlich ihre Arbeitszeit auch früher beendet und sie wartete täglich mit dem Abendbrot auf mich. Nur wurde die gemeinsame Mahlzeit immer öfter nach 19 Uhr verlegt und sie wurde darüber – verständlicherweise – etwas brummig. Doch letztlich hatte sie auch Verständnis dafür, denn sie war ja selbst verlobt.
Auch die Eltern von Gerd wurden allmählich neugierig, mit wem da ihr Sohn so oft spazieren geht, obwohl er doch eigentlich lernen sollte. Da unser Weg oft an der Wohnung vorbeiführte, lauerte sein Vater ab und zu am Fenster, um zu sehen, wer das wohl sein könnte und vor allem, wie sie aussah.
Es war schon Spätherbst. Ich hatte eine von Dorchen genähte wunderschöne warme rotgefütterte schwarze Wolljacke an, das Kopftuch – damals ganz modern gebunden - und Gerd an meiner Seite. Unsere Blicke gingen gemeinsam zum Fenster hin, wo auch tatsächlich der Vati zu sehen war. Gerd winkte herauf, ich tat das Gleiche, Vati winkte zurück und lächelte dabei. Obwohl die Wohnung im dritten Stockwerk war, konnte – oder wollte? – ich Zustimmung erkennen. Und schon war der Kontakt hergestellt.
Als mich Gerd am nächsten Tag abholte, sagte er mir voller Stolz: „Meine Eltern wollen dich kennenlernen. Wäre es dir morgen nach der Arbeit recht?“ Im ersten Moment empfand ich Freude, aber im nächsten Augenblick fürchtete ich mich etwas vor diesem Ereignis. Aber egal – einmal musste es ja sein und schließlich wollte ich es ja eigentlich auch.
Und so ging ich mit Gerd am Dienstag in das Treppenhaus hinein, das einen dunkelgrünen Sockel, ausgetretene Fliesen und eine total verschmutzte weiße Wandfarbe hatte. (Wenn ich dieses Haus aber verglich, so sah es bei uns auch so ähnlich aus.) Die gewendelte, enge Treppe lag im Dunkeln und mir kam es so vor, als ob es eine Turmtreppe sei. Immer und immer höher führte die enge Treppe, bis Gerd schließlich am Ende die Wohnungstüre öffnete.
Ein freundlich-lächelnder Mann begrüßte mich. Sein Gesicht war schmal, die hellen Haare streng nach hinten gekämmt, die Geheimratsecken leuchteten. Er war nicht so groß wie Gerd, dafür aber rundlich, wie es eben so im entsprechenden Alter ist. Nach dem ersten freundlichen Guten Tag und dem Händedruck wich auch etwas Druck von mir. „Das ist Uschi“, hörte ich Gerd sagen. Es klang voller Stolz. Mein Gefühl sagte mir, dass diese Vorstellung noch mehr bedeutete – so etwa: das ist sie, das wird einmal meine Frau. Da die Begrüßung in der Küche stattgefunden hatte, wurde ich nun in die Stube gebeten. Dort erhob sich seine Mutti und begrüßte mich ebenfalls freundlich. Etwas verschüchtert wusste ich jetzt nicht, ob ich mit Straßenschuhen auf den guten Teppich treten durfte, der noch wie neu aussah und auf dem der runde Tisch mit den Stühlen stand. Ein sehr schönes Goldrand-Kaffee-Service stand auf dem Tisch und selbst gebackener Kuchen. Das zeigte mir eindeutig, dass ich von seinen Eltern liebevoll erwartet worden war. Das Wohnzimmer war urgemütlich eingerichtet: Im Blickfeld stand ein Bufet (es sah aus, wie selbst mit Liebe und voller Stolz hergestellt), darauf eine Bufet-Uhr und hoheitsvoll thronte ein