Und wie zur Bestätigung, dass das alte Leben weiterging, hörten sie von der Straße her – wie immer montags - den Lumpensammler rufen:
„Lumpen, Knochen, Eisen, Altpapier,
ausgestopfte Teddys und viel mehr sammeln wir.“
Diesen Ausruf kleidete er in eine sich nie verändernde Melodie, so dass alle Bewohner, die ihn hörten, auch gleich aus dem Fenster sahen und ihn um Geduld baten, bis sie die Sachen geholt hatten. Der Händler besah sie sich und je nach dem, was er am besten weiterverkaufen konnte, fiel auch das Entgelt aus, das er auszahlte. Es waren zwar nur kleine Beträge, aber so konnte jeder seine entbehrlichen Gegenstände loswerden und hatte auch gleich noch ein wenig Geld. Nur bei Familie Krohn bekam er selten etwas zum Kauf angeboten, denn es wurde ja alles verarbeitet oder verwendet. Aber der Lumpenmann mit seinem Karren gehörte zum Stadtbild. Und mit zuverlässiger Pünktlichkeit kam er immer gegen 17 Uhr am Haus vorbei.
Der Milchmann kam mit seinen Milchkannen auf dem Karren immer vormittags gegen 10 Uhr. Er sang kein Lied, sondern hatte eine Glocke, die er in dem entsprechenden Häuserbereich läutete und somit seine Kunden lockte. Peinlich genau wurden die Messbecher in der großen Milchkanne gefüllt und darauf geachtet, dass kein Tröpfchen daneben ging. Auch die Kannen mit den unterschiedlichen Farbmarkierungen für Magermilch, Vollmilch, Buttermilch und Molke wurden mit den Augen kontrolliert, dass man nicht etwa Magermilch bekam und Vollmilch bezahlt hatte. Der Fritz, so wurde er allgemein anonym bezeichnet, kam schon viele Jahre mit seinem zweirädrigen Karren, dem Stützfuß und der langen Lederleine, die er sich um die Schultern legte, wenn er seinen Wagen zum nächsten Häuserkomplex zog. Er war auch immer zu kleinen Scherzen aufgelegt und die Frauen wiederum freuten sich über eine kleine Abwechslung im täglichen Einerlei des Haushaltes. Auch erzählte er oft die neuesten Informationen über Politik und Wirtschaft und war darum nicht nur allgemein der Milchmann, sondern gleichzeitig noch ein bisschen Zeitung. Wenn sich nun eine Familie keine Zeitung leisten konnte, bezahlte sie zwar einen geringen Beitrag mehr für die Milch, hatte aber auch die Stadtinformationen und die Milch gleich Zuhause.
Die Fischfrau kam mittwochs. Auch sie hatte einen zweirädrigen Karren. In großen Fässern waren die unterschiedlichen Fische untergebracht, die, frisch gefangen, noch am gleichen Tag in den entsprechenden Straßen der Vorstädte verkauft wurden. Damit hatte zwar der Händler mehr Arbeit, weil er ja zu den Kunden hinfuhr, aber er hatte auch mehr Umsatz. Für Anna war das Angebot der Fischfrau immer sehr günstig, denn freitags bekam Vater Geld. Am Mittwoch und Donnerstag war nicht mehr viel im Geldbeutel drin. Aber für eine Fischsuppe reichten die letzten Pfennige immer noch, auch wenn es vielleicht nur Fischköpfe waren. Und darum gab es bei Familie Krohn immer mittwochs und donnerstags zum Mittagessen Fisch, weil das die billigste Mahlzeit war und Mutter nicht in die Stadt fahren musste. Die Fischfrau, Frau Grieß, hörte man schon von weitem rufen: „Frische Därsch! Holt Stint, so lang noch welche sind!“ Sie hatte eine sehr kräftige Stimme, unverkennbar ein Fischweib, wohlgenährt und vollbusig wie auf dem Fischmarkt.
Der fand wochentags auf der Fischbrücke statt. Das war die gepflasterte Uferstraße am Pregel. Dort hatte die Familie auch einen Stand, der immer guten Umsatz mit den frischen und zum Teil noch lebenden Fischen machte. Wie jeder Fischer brachte ihr Mann den Fang in den frühen Morgenstunden in den Hafen. Dann wurde von der ganzen Familie sortiert und verkauft. Manche Fischer verkauften auch gleich aus dem Kahn oder Fischkutter an die Kunden und sparten sich so das Standgeld. Der Verkauf durfte aber erst beginnen, wenn das Marktzeichen, eine Fahne, für alle sichtbar war. Gegenüber den anderen Händlern mit Frischware hatten die Fischverkäufer eine Ausnahmegenehmigung: Damit die frischen Fische auch tatsächlich frisch bei den Kunden ankamen, durften die Wiederverkäufer, also Zwischenhändler, bereits nach der Morgenmesse größere Mengen aufkaufen.
Die Bauern, die ihre Waren anboten, wurden – wie auch die Fischhändler – von Marktboten, Ratsherren und Gewerkmeistern überprüft. Da ein sogenannter Vorkauf streng verboten war, also vor den Toren und außerhalb des Marktes kein Handel stattfinden durfte, wurden die Zufahrtswege der Märkte besonders überprüft. Kein Bürger und kein Handlungsdiener durfte die Bauern auf dem Weg zum Markt abfangen und Verhandlungen beginnen. Das ging so weit, dass niemand die Wagen oder Schlitten begleiten und auch nicht die Hand auf die Fuhrwerke auflegen durfte als Zeichen dafür, dass er bereits Besitzer sein könnte. Da die Märkte alle in der Innenstadt waren, hatten die Händler, die die Vorstädte versorgten, eine Sondergenehmigung.
Ab und an fuhr Anna auch in die Stadt. Aber seit alles teurer geworden war, sie nun schon sechs Kinder hatte und sie sich fast auf Selbstversorgung eingerichtet hatten, war der Gemüsemarkt oberhalb der Schmiedebrücke überflüssig geworden. Ihr Interesse galt dann mehr dem Textilhaus Siebert und dem Altstädtischen Markt sowie der Langgasse. Hier konnte sie die vielen Kleinigkeiten finden, die sie für den Haushalt brauchte, ganz besonders Wolle, Häkel- und Nähgarne, Druckknöpfe, Knöpfe, Schleifen, Bänder und Stoffreste, um für die Mädchen daraus etwas zu nähen. Vorrangig bekam Lisbeth, die Älteste, etwas Neues anzuziehen, weil die jüngeren Geschwister die Kleidung nachtrugen. Aber auch Fritz als einziger Junge brauchte Hosen und Hemden, denn er sollte ja auch wie ein Junge aussehen. Aber Mutter versuchte, möglichst allen Kindern zu den Feiertagen eine Freude zu machen und sie hübsch anzuziehen. In die anderen Geschäfte, die Glas, Porzellan, Bücher, Pullover, Kleider, Blusen, Hüte und vieles mehr anboten, ging sie gar nicht erst hinein, sondern schaute sich nur flüchtig die Auslagen an. Wie gerne hätte sie aber auch einmal ein neues Kleid gehabt, aber den Gedanken konnte sie gleich vergessen. Aber wenn sie verglich, was jetzt gerade in Mode war, erschrak sie. Die jungen Frauen waren heutzutage ganz anders gekleidet. Auch die Haare waren meistens kurz und in Wellen gelegt. Farblich – oft beige, orange, weiß, hellblau – waren Kleid, Hut und Handtasche aufeinander abgestimmt, lange Ketten reichten bis über die Brust, Pelzcapes wurden auch im Sommer präsentiert, die Schuhe hatten eine ganz andere Form, die Strümpfe waren fein gewirkt und fast durchsichtig, die Kleider und Röcke kürzer. Kurzum: Wenn sie ihre Kleidung mit der der modernen Frauen verglich, sah sie zwar sauber und ordentlich, aber total altmodisch aus. Und darum fasste sie einen Entschluss: Ich werde wöchentlich Geld sparen, mir Stoff und einen Schnittmusterbogen kaufen und mir für nächstes Jahr zu Ostern, wenn Fritz in die Schule kommt, ein neues, modernes Kleid nähen. Damit überrasche ich Otto. Schon alleine dieser Gedanke erfüllte sie mit Freude und darum fiel es ihr auch gar nicht schwer, bei der Konditorei mit dem Königsberger Marzipan vorbeizugehen und nur die Auslagen genüsslich anzuschauen. Und was sich Anna einmal vorgenommen hatte, setzte sie auch meistens in die Tat um.
Diese Gedanken bewegten sie nur ein paar Sekunden und doch hatte die Unaufmerksamkeit gereicht, dass Fritz den Kinderwagen losgelassen hatte und einem kleinen, niedlichen Hund hinterherlief, der gerade über die Straße rannte. Mutters Herz blieb vor Schreck fast stehen. „Fritz! Bleib stehen!“ Er hatte wohl selbst die Gefahr erkannt und blieb sofort stehen. Mutter lief eilig hin und ratsch – hatte er eine Ohrfeige. Fritz heulte. Mutter war selbst über sich erschrocken. Das passierte selten genug, dass es eine Ohrfeige setzte, aber da hatte wahrscheinlich die Angst den Hebel angesetzt. Ja, mit den drei kleinen Kindern war ein Einkauf wahrlich keine besondere Freude. Wie ein Dompteur musste sie auf die Kinder aufpassen und außerdem ihre Neugierde befriedigen, wenn Fritz und Lotte je rechts und links am Kinderwagen anfassen mussten, während Lena im Kinderwagen saß. Autos, Straßenbahnen, Fahrräder, Händler, Passanten – es war ein quirliges Treiben in der Stadt. Und darum war sie dann immer heilfroh, wenn sie alle Kinder wieder wohlbehalten in der Straßenbahn hatte und die Fahrt wieder nach Hause ging. So ein Ausflug war und blieb ein besonderes Ereignis. In Ponarth war alles viel ruhiger und gemütlicher und außerdem kostete ein Einkauf im Kolonialwarengeschäft kein Geld für die Straßenbahn. Aber in Ponarth gab es nicht immer das, was Anna brauchte.
Aber so ein Stadtbesuch forderte auch viel Zeit und die hatte Anna nicht. Denn morgens, wenn die Großen in die Schule gegangen waren, mussten ja noch die Kleinen versorgt und das Mittagessen vorbereitet werden. Meist blieb nur eine kurze Zeit, bis die Kinder wieder nach Hause kamen und Hunger hatten.
Wenn es ihr gelungen war, alle Aufgaben zu erledigen,