So bekam auch der junge John Randle, aufgewachsen in einer Holzhütte ohne WC und im Winter ohne Heizung, schließlich ein Stipendium der staatlichen Texas A&I University. Vorher hatte sein älterer Bruder Ervin bereits ein Stipendium der Baylor University in Waco erhalten. Für Ervin war es die Eintrittskarte in den Profisport gewesen, übrigens ganz ohne Fake. Ervin Randle spielte von 1985 bis 1992 als „Linebacker“ für die NFL-Mannschaften Tampa Bay Buccaneers und Kansas City Chiefs. Er bestritt 105 Spiele, erreichte aber nie die spätere Berühmtheit seines jüngeren Bruders. Dass es gerade American Football war, der den beiden dunkelhäutigen Brüdern einen Weg aus bitterster Armut ebnete, birgt insofern eine gewisse Ironie, als in dieser Sportart noch wenige Jahrzehnte zuvor ein unverhohlener Rassismus herrschte: Anfang der 1930er-Jahre hatten die mächtigen Eigentümer der Erstliga-Teams das berüchtigte „Gentlemen’s Agreement“ geschlossen. Damit wurde Schwarzen unter der Hand die Aufnahme in die Mannschaften verwehrt. So fand sich – ausgerechnet – zwischen 1933 und 1945 kein einziger Schwarzer in der höchsten Spielklasse des American Football. Zwar wurde das „Gentlemen’s Agreement“ nach dem Zweiten Weltkrieg gelockert und spielte nach Gründung der modernen NFL im Jahr 1970 keine Rolle mehr. Doch wer glaubt, der Rassismus sei über Nacht verschwunden, der kennt Amerika schlecht. Es ist also nur wenig Spekulation im Spiel, wenn man davon ausgeht, dass John Randle in der NFL nicht gerade der rote Teppich ausgerollt wurde. Als Schwarzer aus ärmsten Verhältnissen, ehemaliger Student eines staatlichen Colleges, zudem für einen Football-Spieler eigentlich zu klein, traf er in der Kabine und auf dem Spielfeld auf hellhäutige Hünen aus reichen Elternhäusern, die von den privaten Elite-Unis kamen. Wenn Randle also vielleicht der Rolle eines Außenseiters kaum entkommen konnte, so fand er immerhin seinen eigenen Weg, damit umzugehen.
„DER VERRÜCKTESTE SPIELER IN DER GESCHICHTE DER NFL“
Bis heute haften dem Hall-of-Fame-Spieler John Randle zwei Etiketten an. In beiden Fällen handelt es sich um Superlative. Auf dem ersten Etikett steht: „Bestbezahlter Defensivspieler aller Zeiten.“ Auf dem zweiten: „Verrücktester Spieler in der Geschichte der NFL.“ Das erste Etikett will schon etwas heißen in der umsatzstärksten und zahlungskräftigsten Sportliga der Welt. Das zweite lohnt einen genaueren Blick: Wie konnte der gutmütige, stets freundliche, ursprünglich eher schüchterne Junge aus Texas auf dem Rasen zum „Verrückten“ werden? Mannschaftskameraden, Gegner, Schiedsrichter, Zuschauer und Kommentatoren konnten bei seinen Auftritten immer wieder nur den Kopf schütteln. Wie kam das? Möglicherweise war John Randle wirklich durchgeknallt. Oder dieses Auftreten war nur ein Trick, ähnlich wie einst die Kette auf der Waage. Vielleicht hatte das irritierende Benehmen auf dem Spielfeld, für das John Randle so berühmt wurde, ja am Ende sogar etwas mit der Einlösung des Versprechens eines Fakers zu tun.
Unbestreitbar ist, dass es in der NFL vor Randle und auch nach ihm keinen anderen Spieler gab, der auf dem Rasen dermaßen die Sau raus-gelassen hätte. In den Nahaufnahmen seiner Aktionen, die im amerikanischen Fernsehen gezeigt wurden, hört man fast öfter einen „Beep“ als seine Stimme. Mit solchen „Beeps“ löscht das Fernsehen im puritanischen Amerika bekanntlich „Four-Letter-Words“ von der Tonspur. Randle schrie auf dem Rasen wohl öfter „Fuck you!“ (in europäischen Büchern dürfen wir so etwas ja Gott sei Dank schreiben), als seine Mannschaft Bälle eroberte. Auch vor Schiedsrichtern zeigte er wenig Respekt. Einmal drohte ein Schiedsrichter Randle: „Ich schreibe Sie gleich in mein Notizbuch.“ (Das ungefähre Pendant zur gelben Karte im Fußball.) Darauf Randle: „Und ich schreibe Sie auf meine Weihnachtsliste – wie finden Sie das?“ Als so richtig „crazy“ empfanden die Zuschauer und Mitspieler aber erst Randles nonverbale Äußerungen: Er imitierte epileptische Anfälle auf dem Rasen, gurgelte auf der Bank laut mit Wasser, verdrehte die Augen, grunzte, schnaubte, spuckte, lallte wie besessen und führte alle Varianten von irren Tänzen auf. Mitspieler, Gegner und Schiedsrichter schauten dabei meist nur fassungslos zu. Hinzu kam sein Spielstil, der von Experten einhellig als „wild“ charakterisiert wird. Randle tobte auf dem Spielfeld wie ein aus dem Käfig gelassenes Raubtier.
„Er war nicht verrückt“, ist sich Randles Mentor John Teerlinck sicher. „Der Wahnsinn hatte Methode.“ Randles gespielte Verrücktheit war eine Strategie der Selbstbehauptung. Durch einen Fake hatte er sich Zutritt zu einer Mannschaft verschafft, in der er zunächst nicht erwünscht war. Den Makel, für seine Position eigentlich zu klein zu sein, konnte er zwar nicht beseitigen, aber kompensieren. Randle entschied sich, maximal zu irritieren, um sich durchsetzen zu können. Er sagte dazu selbst: „Ich sah mich als den kleinen Hund in der Gruppe.“ Kleine Hunde müssen lauter bellen als große. Mit seinem losen Mundwerk schüchterte er seine Gegner ein und verschaffte sich Respekt in den eigenen Reihen. Nicht zuletzt mit dieser Strategie löste er sein Faker-Versprechen ein. Hinzu kam selbstverständlich eine überragende sportliche Leistung. Ausgerechnet der „kleine“ Randle räumte Gegenspieler ab, die als unbezwingbare Berserker galten. Möglicherweise kam ihm dabei zugute, dass die Gegner den „kleinen Verrückten“ regelmäßig unterschätzten. Berühmt wurde Randle aber nicht allein wegen seiner Verrücktheiten, sondern auch wegen seiner fantastischen Spieltechnik. Eine von ihm entwickelte schnelle Körperdrehung, als „The Spin“ legendär geworden, vergleicht Randles Mentor Teerlinck mit einem Tornado.
Im Leistungssport wird einem nichts geschenkt, so heißt es. John Randle wurde bereits während seiner Kindheit und Jugend nichts geschenkt. Doch er war zutiefst von sich selbst und seinem Potenzial überzeugt. Erst dieses Selbstbewusstsein ermöglicht dem Faker den Fake. Andernfalls wäre seine Schummelei ein Betrug, der schnell auffliegt und offenbart, dass da einer in einer höheren Liga nichts zu suchen hat. Wer sein Schicksal korrigieren will, der muss sich der korrigierten Version innerlich gewachsen fühlen. Bei John Randle war das ohne jeden Zweifel der Fall. Nach seinem Karriereende und der Aufnahme in die Hall of Fame des American Football lebt er heute mit seiner Familie in einem kleinen Ort mit 5.000 Einwohnern. In Medina, Minnesota, vor den Toren von Minneapolis, erinnert ihn jedoch nichts an das ärmliche Mumford, Texas, in dem er aufgewachsen ist. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen beträgt hier 97.000 US-Dollar. Randles Eigenheim ist zwar nicht vergleichbar mit den Stuckpalästen der Hollywoodstars, doch mehr als komfortabel. Von Randles schwieriger Jugend und dem einstigen Zwang zum Fake ist nichts geblieben. Das heißt, fast nichts: Am rechten Handgelenk trägt Randle heute eine grobgliedrige Kette, die fast so aussieht wie jene, die er sich einst mit einem Vorhängeschloss um die Hüften legte, um mehr als 250 Pfund auf die Waage zu bringen.
3 | DIE MODESCHÖPFERIN
Paris in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Zwischen den beiden Weltkriegen war die französische Metropole die unangefochtene Kulturhauptstadt der Welt. Bildende Kunst, Literatur und Theater, Musik und Tanz, Architektur, Mode und Design – das alles stand in höchster Blüte. Eine Explosion der Kreativität, gleichermaßen begierig konsumiert wie mäzenatisch gefördert von einer Bourgeoisie, die sich auf ausschweifenden Partys allabendlich selbst feierte. „Les Années Folles“ nannte sich diese Zeit bald selbst, die verrückt-frivolen Jahre. Es herrschte ein Verlangen nach Freiheit und Lebendigkeit, ein Streben nach Kultiviertheit und intellektuellem Austausch und eine geradezu unverschämte Lust auf Luxus. „Le soleil de l’art alors brillait seulement sur Paris“, schrieb Marc Chagall: Nirgendwo scheint die Sonne der Kunst heller als über Paris. Amerikanische Expatriierte bildeten hier eine eigene Szene, zu der die Literaten F. Scott Fitzgerald, Gertrude Stein, Henry Miller und Ernest Hemingway zählten. Der Soundtrack dazu: „Ein