›Für die Wohnung meiner Freundin Maria auf der Karli. Sie braucht diese nicht mehr …‹, konnte ich entziffern. Fast unleserlich stand darunter noch eine Zahl. ›Ist hoffentlich die Hausnummer …‹, flehte ich innerlich. Der Zettel gehörte bestimmt zu dem goldenen Schlüssel, dem Abschiedsgeschenk von Anja. Nach dem Wählen von Freds Nummer ertönte nach nur zweimaligem Tuten seine aufgeräumte Stimme.
»Na, mein Lieber, hast dich ja ewig nicht gemeldet, wollen wir nicht mal wieder zusammen richtig einen drauf machen? … so wie früher?«
»Gerne«, kam es etwas verstört von mir, »aber erst einmal brauche ich dein super Taxi.«
»Habt wohl mal wieder zu viel Ramsch bei IKEA gebunkert?«, kam es lachend zurück.
»Ne«, murmelte ich, »ich brauch einen Transport mit meinen Beziehungsresten in eine neue Wohnung, und zwar bitte sofort.«
»Verstehe Bahnhof?!? Neue Wohnung?«
Eigentlich hatte ich keine Lust zu einer peinlichen Beichte, ich hatte aber keine andere Chance.
»Bin rausgeflogen bei Anja«, kam es stockend aus meinem Mund.
»Du wirst nie erwachsen« und ein herzhaftes Lachen dröhnte in mein Ohr. Und mit einer mir den letzten Rest gebenden Betonung ging es weiter, »so eine heiße Braut wie Anja gibt es nur wenige auf der Welt, aber Du kriegst auch das hin, bei ihr rauszufliegen …, … vielleicht habe ich jetzt endlich die Chance meines Lebens bei ihr, wollte sie schon immer gerne mal vernaschen, aber unter Kumpels ist man ja fair …, hahahahaaaa!«
»Kotzbrocken!!!«, schrie ich zurück.
»Komm, krieg dich ein, in fünf Minuten bin ich bei dir.«
Erleichtert, aber leicht angesäuert, steckte ich mein Handy in die Tasche, welches mit einem leisen Piep seine letzte Batteriespannung aushauchte.
Aus den fünf Minuten wurde zwar fast eine Stunde, aber ich hatte ja zum Glück keine Langeweile. Ich nutzte die Zeit, um mir inzwischen einen Überblick über die spärlichen Reste einer zweijährigen Beziehung zu verschaffen. Immer, wenn ich in regelmäßigen Abständen bei der Bestandsaufnahme verzweifeln wollte, gaben mir die im ungefähr zehnminütigen Abstand wechselnden rhythmischen Geräusche aus meiner ehemaligen Wohnung ein neues Rätsel auf, welcher geliebte Wohnungsgegenstand gerade laut DIN-Zerstörungsnorm getestet wurde.
Ganz hinten, auf dem Treppenabsatz in einer dunkleren Ecke, fand ich zum Schluss der Inventur erfreut meinen Zwei-Meter-Riesenspiegel – ein Erbstück von meiner Großmutter. Ich dankte innerlich vielmals, dass er noch heil war. Aber Anja war ja zum Glück etwas abergläubisch und wollte bestimmt nicht nur Blümchensex in den nächsten sieben Jahren.
Als sich über die Unversehrtheit meines Lieblingsspiegels gerade Erleichterung in mir ausbreiten wollte, sah ich auf der Spiegeloberfläche Anjas Kreativität. Mein Kopf gemalt, natürlich mit dem kaminroten Lippenstift, dessen Farbe und Geschmack ich immer so an ihr geliebt hatte. Über meinem vortrefflich getroffenen doofen Gesichtsausdruck stand in Anja-Schönschrift:
So sieht ein Scheiß-Kerl aus!
Bevor ich erneut in Selbstmitleid flüchten konnte, hörte ich schwere Schritte auf den alten Treppenstufen, zweieinhalb Zentner Lebendgewicht sind einfach nicht zu überhören.
»Neues Spiel, neues Glück mein Lieber«, kam es kurzatmig aus seinem Mund. »Zum Glück hat Anja ja schon mal ausgemistet, wie ich sehe. Das schaffen wir locker mit einer Fahrt und hinterher gehen wir auf die Piste!«, kam lachend hinterher.
»Ha, haa, haaaa …«, dieses typische Fred-Lachen, was ich an normalen Tagen so liebte, aber heute war ja der vorverlegte Weltuntergang, wie ich in den letzten Stunden schon mehrfach feststellen durfte.
Innerhalb einer halben Stunde hatten wir meine verbliebenen Habseligkeiten in Freds Taxi verstaut und starteten Richtung Karli.
»Wir sind da!« lachte Fred, »Hast ja mächtig Glück gehabt, coole Gegend, coole Kneipen und schräge Clubs! Haste eigentlich nicht verdient, … ha … haa, … haaa! … und vor allem in der Nähe meines Lieblingspubs!«
Ein kleiner Lichtblick am Ende des Tunnels wurde vor mir für Sekundenbruchteile sichtbar und Klein-Paul zuckte kurz gut gelaunt, als er Freds Hinweise hinsichtlich meiner neuen Wohngegend vernahm.
Nach knapp einer weiteren halben Stunde durch das mittlerweile nächtliche Leipzig standen wir nun vor meiner neuen Bleibe. Bewundernd ließ ich meinen Blick über die tollen Häuserfronten wandern, und soweit meine Augen blicken konnten: Kneipen, Cafés, Klubs und, und, und … ›Wirklich Glück gehabt.‹ Schwer rang ich mir ein kleines Dankeschön an Anja ab.
»Hör auf zu träumen!«, rief Fred, »Lass uns endlich deinen Krempel reinbringen, umso eher können wir losziehen.«
Schnell schnappte ich mir als Erstes Großmutters Riesenspiegel und ging langsam damit Richtung der ehemaligen Bleibe von Anjas Freundin Maria, deren Hausnummernschild mir von weitem entgegen lachte. Von außen sah das Haus super aus, frisch renoviert, wie fast alle Häuser auf der Karli. An der Tür angekommen, fischte ich in der Tasche nach dem goldenen Schlüssel. ›Fängt der Albtraum schon wieder an?‹ Egal wie ich versuchte, den Schlüssel in der Haustür zu platzieren, er passte nicht. Das konnte nur eines bedeuten, Anja wollte mich nur schnell von unserer Wohnungstür wegbringen, egal wie und der Schlüssel und die angebliche Wohnung waren ein Fake.
»Kannste nicht mal mehr lesen?«, schrie es von weitem und Fred streckte mir den gelben Klebezettel entgegen, »Du stehst vor der falschen Tür, auf Anjas Zettel steht kein ›a‹ neben der Hausnummer.«
Mein Blick wanderte zurück auf das Schild, jetzt sah ich es auch, ganz klein klebte daneben ein kleines schwarzes ›a‹.
Fred, der Schweiß tropfte ihm von der Stirn und die wenigen noch vorhandenen längeren Haare waren nur noch nasse Striche auf seinem Kopf, schleppte und zerrte in der Zwischenzeit Teile meines letzten Besitzes vor das Nachbarhaus. Wie oft hatte ich ihm schon geraten, etwas für seine Gesundheit zu tun, aber Fred liebte seinen Bauch. ›Ein Mann ohne Bauch ist ein Krüppel‹, war einer seiner Lieblingssätze.
Ich hatte diese Ruine schon beim Aussteigen aus Freds Taxi halb aus den Augenwinkeln wahrgenommen. In meinem Unterbewusstsein hatte ich es als unsaniertes Haus aus dem letzten Jahrhundert abgehakt und gestaunt, dass es noch unsanierte Häuser auf der Karli geben sollte. Traumatisiert wandelte ich mit meinem Riesenspiegel zum Nachbarhaus, na ja, ein Haus war es vor über 100 Jahren mal gewesen, jetzt war es mehr ein Kunstobjekt. Aber es schien bewohnt zu sein, manche Fenster waren geöffnet und es schallte Musik fast jeder Stilrichtung heraus. Die vor einigen Fenstern durch permanenten Wassermangel liebevoll totgepflegten Blumenkästen hatten schon fast etwas Skurriles. Aus einem Fenster im ersten Stock kam ein süßer Duft in meine Nase und das passende Gewächs dazu stand gleich neben dem geöffneten Fenster unter einer bestimmt 1000 Watt Lampe. Wenigstens war ich nicht allein im Museumshaus. Mit dieser Gewissheit schleppten Fred und ich meine Habseligkeiten in den dritten Stock. ›Der nächste kleine Pluspunkt, denn unsere alte Wohnung war ja auch im dritten Stock, und wenn jetzt noch ungefähr die Anzahl der Treppenstufen stimmt, kann ich wie gewohnt in jedem Zustand meine neue Höhle finden‹, ging es durch meinen Kopf.
Das Unterbewusstsein wusste ja angeblich viel mehr als man selbst je über sich erfahren würde, hatte ich oft gelesen, aber nie so recht daran geglaubt. Als ich die Wohnungstür aufgeschlossen hatte und im Dunkeln endlich einen Lichtschalter fand, beschloss ich, in meinem mir noch verbleibenden Leben nie mehr an dieser Tatsache zu rütteln: ›HÖHLE‹ schrie es mir förmlich entgegen, ›Höhle im wahrsten Sinne des Wortes!‹. An einem Draht baumelte eine 40-Watt-Energiesparlampe von der Flurdecke. Hatte die ›liebe‹ Anja etwa auch daran gedacht, dass diese komische Erfindung ein paar Minuten braucht, um ihre volle Leuchtkraft zu erreichen und ich so die Gelegenheit bekam, mich in Minutenintervallen