Susanna berührte ihren Augenwinkel und bemühte sich darum, die Tränen zurückzuhalten. „Hör nur mal hin, wie meine kleine weise Schwester Ratschläge verteilt und dem Daddyismus frönt.“
Avery legte ihre Wange gegen Susannas Schulter. „Ich vermisse ihn. Und dich.“
„Es tut mir leid, dass das alles alleine auf deinen Schultern lastet. Für Mama da zu sein, meine ich.“
„Es läuft eigentlich ganz gut zwischen uns. Wir kommen zurecht. Aber als du angerufen hast, um zu sagen, dass du schwanger bist, und uns zu Weihnachten hierher einzuladen, habe ich ein Licht in ihr leuchten sehen wie seit der Beerdigung nicht mehr. Sie ist ganz lebendig geworden.“
„Dann lass uns das zum besten Weihnachtsfest überhaupt machen.“
„Das beste Weihnachtsfest überhaupt?“ Die Schwestern passierten den stimmungsvollen Lichterschein, den die Wandleuchter in den Flur warfen. „Ich glaube kaum, dass du das Weihnachten von 2006 überbieten kannst, als alle Cousinen und Cousins kamen und ich ein neues Fahrrad bekommen habe.“
„Oh, das war gut!“
„Oder das 2007, als es schneite …“
„Na ja, das, was wir im Süden Georgias eben so Schnee nennen.“
Avery lachte. Sie liebte das Rascheln und Rauschen ihres Rockes um ihre Beine. Sie liebte den Wirbel der Vorfreude auf den anstehenden Abend. Eine große, schnieke Party ohne Sorgen. Wenigstens für ein paar Stunden.
„Aber Junge, Junge, was hatten wir Spaß 2007, oder nicht?“ Sie hatte Colin gegenüber Susanna nicht einmal angedeutet. Am besten ließ sie die Vergangenheit einfach hinter sich. Außerdem sagte ihr ihr Bauchgefühl, dass er sowieso zur See war. Oder im Ausland stationiert. „Ich habe versucht, einen Schneeball zu machen, aber nichts wollte zusammenkleben, also habe ich einfach meinen nassen, leicht mit Schnee bepuderten Handschuh in Marco Hernandez‘ Gesicht geklatscht.“
Susanna lachte. „Ich bekomme Heimweh.“
„Aber du gewöhnst dich so langsam an all das hier, oder?“
„Das tue ich, und ein Kind zur Welt zu bringen“, sie umarmte ihren Bauch fester, „wird das Gefühl, eine Familie zu sein, verstärken.“ Mit dem anderen Arm fasste Susanna den ihrer Schwester fester. „Ich hoffe, du findest jemanden wie Nathaniel, Avery. Gib dich nicht mit weniger zufrieden.“
„Das habe ich nicht vor.“
„Sooo“, sagte Susanna langsam, und in dem einen Wort lagen viele, viele Fragen. „Da warst du nun also vier Jahre auf diesem großen Ohio State Campus und hast niemand Besonderes gefunden?“
„Nein.“
„Warum habe ich das Gefühl, dass du mir da irgendetwas nicht sagst?“ Susanna hielt vor Mamas Tür an.
„Es gibt nichts zu erzählen.“ Sie hatte versucht, auf der Ohio State mit Männern auszugehen, aber wo landet ein Mädchen denn, wenn ihre erste Liebe gleichzeitig auch ihre wahre Liebe war? Und obendrein noch ein Prinz. „Ich war zu beschäftigt mit dem Studium und dem Volleyball.“
„Aber du hast dich doch verabredet?“
„Ja, klar. Nur nie jemand Ernsthaftes.“ Avery griff nach dem Türknauf. „Lass uns besser reingehen, sonst haben wir keine Zeit mehr für Tee.“
„Aves …“ Susanna nahm ihre Hand. „Wegen heute Abend … alle werden bei dem Halligalli anwesend sein.“ Ihre Blicke trafen sich einen wissenden Augenblick lang. „Die ganze Familie, meine ich.“
„Nun, natürlich.“ Genervt von ihrem plötzlich lauter schlagenden Herzen, tat Avery Susannas versteckte Andeutung schulterzuckend ab. „Ich hätte sowieso erwartet, dass die ganze Familie da ist.“
„Nathaniel besteht darauf, dass im Dezember alle Mann an Bord sind. Beginnend beim Erntefest bis hin zum Weihnachtsball am 28.“ Susanna drückte Averys Hand. „Es ist ein Riesenspaß, wirklich. Hast du seinen Cousin Prinz Tony mal kennengelernt, den vierten in der Thronfolge? Der ist super. Seine Frau, Prinzessin Rachel, ist meine vielleicht beste Freundin.“
„Dann freue ich mich darauf, die beiden kennenzulernen.“ Avery legte ein breites Lächeln an den Tag. „Können wir jetzt reingehen und nachschauen, was die großmächtige Glo macht?“ Sie versuchte noch einmal, nach dem Türknauf zu greifen, aber Susanna fasste ihre Hand nur fester.
„Du weißt, dass er mit der Schauspielerin Lady Jordan Skye ausgeht.“
Komisch, dass er Colin hieß und sie das auch beide wussten.
Avery betrachtete den Boden und die Spitzen ihrer braunen Riemchenpumps. „Ich weiß.“ Sie hatte sich eines Abends, als sie sich etwas sentimental fühlte und über Weihnachten in Brighton nachdachte, einer mutigen Googlesuche gestellt. Dumm, ehrlich gesagt.
„Er wird heute mit ihr hier sein.“
Avery zog ihre Hand aus Susannas. „Nicht meine Angelegenheit.“
Sie war immer ehrlich gewesen mit ihrer Schwester, hatte ihr Herz immer auf der Zunge getragen, aber in diesem Moment schien es ihr lächerlich, ihre Vergangenheit mit dem Prinzen anzusprechen. Bestehende Gefühle auch nur anzudeuten. Es war über vier, beinahe fünf Jahre her, dass ihre Beziehung geendet hatte. Avery fragte sich manchmal, ob alles nicht mehr eine Art ausführlicher Traum gewesen war.
„Aves?“ Susanna blockierte den Durchgang zu Mamas Suite. „Sprich mit mir.“
„Es ist nur … Ich weiß nicht … Wo Daddy gestorben ist und ich aus der Uni raus bin, runter vom Volleyballplatz, da fühle ich mich manchmal neben der Spur. Und ich denke zu viel nach.“
„Vermisst du Colin?“
„Nicht wirklich.“ Avery drehte ihrer Schwester den Rücken zu, starrte den Flur hinunter auf das Licht, das hinter den Ecken hervorquoll, und hielt eine Tränenflut zurück. „Warum sollte ich ihn vermissen? Er hat mich eine Woche vor meinem Abschlussball versetzt. Hat mir eine SMS geschrieben und danach nie wieder mit mir gesprochen.“
„Aber?“ Wie wusste Susanna nur immer, dass da noch mehr war?
„Es ist nur, dass ich nicht nach Brighton kommen kann, ohne mich an unsere erste Reise hierher zu erinnern, weißt du? An Colin und wie er mich quasi überrumpelt hat.“
„Das hat er, und ihr beide habt euch auf Anhieb gut verstanden.“
„Ich habe ihn geliebt.“ Jetzt hatte sie es zugegeben. Die Liebe wollte sich zu Wort melden.
„Und jetzt?“ Susanna war unermüdlich.
„Es ist Jahre her. Natürlich liebe ich ihn jetzt nicht mehr.“ Averys Hohn unterstrich ihr Leugnen nur.
„Ich frage ja nur“, sagte Susanna lächelnd. „Ich glaube, wenn du ihn wiedersiehst, wird dir klar werden, dass du inzwischen ganz woanders stehst im Leben. Außerdem werden bei der Feier heute Abend reichlich gut aussehende, noch verfügbare Männer anwesend sein. Du wirst kein Mauerblümchen sein, verlass dich drauf.“
„Gut. Ich freue mich auf ein bisschen Spaß. Ich will ihm gegenüber nur nicht bemitleidenswert dastehen.“
„Das wird nicht passieren. Und du könntest in seinen Augen nie bemitleidenswert aussehen. Du bist mutig und selbstbewusst. Du bist schön. Sei einfach die Avery Truitt, die Spielerin des Jahres der Big Ten Conference war. Zweimal.“
Die Wahrheit, die Susanna ausgesprochen hatte – und war sie noch so sanft –, erstickte jeden Gedanken daran, dass dieser Besuch dem ersten gleichen könnte,