Jan und Jutta. Liselotte Welskopf-Henrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Liselotte Welskopf-Henrich
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783957840141
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      Teufel, Donner …

      Hannes kletterte von seiner Bettstatt herab und lief barfüßig durch den Saal. Er gelangte bis zu dem Fenster. Als er es näher besah, erschrak er furchtbar. War hier einer entflohen? Dann gab es wieder Strafe. Prügel von Vürmann … wußte der Himmel, wen er beschuldigen und wie er vielleicht alle bestrafen würde, die hier im Saal geschlafen hatten. Hannes öffnete den Mund, er wollte laut aufschreien, um die Wachmannschaften auf seine Wahrnehmung aufmerksam zu machen. Er durfte nicht in diese Sache hineingezogen werden, er mußte unschuldig sein!

      Als Hannes den Mund öffnete, um zu schreien, legte sich auf einmal eine Hand grob vor seine Lippen. »Halt’s Maul, du Taugenichts!« flüsterte es.

      Das war der Schlossergeselle, der sein Bett unmittelbar am Fenster hatte.

      Hannes wollte sich losreißen.

      Da packte ihn schon ein zweiter. »Halt’s Maul, du Lump!«

      Hannes sackte zusammen.

      Der Vorgang hatte noch weitere Gefangene geweckt.

      »Was ist denn los?«

      »Ruhe!«

      »Was ist denn mit dem Fenster?!«

      »Mensch …«

      »Das Maul sollt ihr halten! Wollt ihr sie verpfeifen? Ruhig, sage ich!«

      Der Lärm, der hatte aufwallen wollen, ebbte wieder ab. Doch war jetzt fast der ganze Saal wach geworden, und das Geflüster wollte nicht mehr abreißen. Die Gefangenen schauten nach den anderen Betten, und bald wußte jeder, wer fehlte: Jan, Christoph und Franz.

      Hannes war wieder auf sein Bett geklettert und weinte. Die anderen mutmaßten und ratschlagten. Es herrschte eine ungeheure, wenn auch noch unterdrückte Erregung. Der Schlosser hatte mit drei handfesten Freunden zusammen gedroht, jeden, der die Flüchtlinge verpfeifen würde, kurz und klein zu schlagen.

      Vürmanns Schnarchen, das die Gefangenen hören konnten, klang jetzt unregelmäßiger. Er träumte nicht mehr gut, sondern schlecht. Endlich warf er das Kopfkissen gegen seinen vermeintlichen Gegner und erwachte mißlaunig. Es war trotz des geöffneten Fensters noch dumpfe Luft im Wachraum, darum hatte er vielleicht so schlecht geträumt. Vürmann stand auf, um sich sein Kopfkissen wiederzuholen. Dabei nahm sein auf Wachsamkeit dressiertes Ohr die leise Unruhe im Gefangenenraum nebenan wahr. Was die Bande wohl wieder zu flüstern und zu munkeln hatte? Jetzt war es ihm klar, diese Banditen hatten ihm mit ihrer unangebrachten Unruhe den seligen Schlummer in einen Schlaf voll schlechter Träume verwandelt und ihn endlich aufgeweckt. Er wollte der Bande aber zeigen, wer hier Herr im Hause war, die Ganoven oder der Wachtmeister!

      Vürmann ging an das »Spionenfenster«, das den Wachraum mit dem Gefangenensaal verband. Da waren doch wahrhaftig welche aus den Betten gekrochen und klönten. Was die an dem Fenster der gegenüberliegenden Seite wohl interessierte? Die Gefangenen hatten nichts am Fenster zu suchen!

      Vürmann fuhr in seine Hosen, griff nach der Dienstpistole, entsicherte sie und nahm sich noch einen zweiten Mann mit, den er höchst unsanft aus dem Schlafe gerissen hatte.

      Die Pistole in der Hand, betrat er mit seiner Begleitung rachedrohend den Schlafsaal und ließ das Licht anschalten.

      Der Stubenälteste, im Hemd, nahm beim Eintreten des Herrn Wachtmeisters bessere Haltung an als je und machte seine Meldung.

      »Zweiundzwanzig Gefangene anwesend, Herr Wachtmeister!«

      Vürmann war so aufgeregt, daß er die Zahl »zweiundzwanzig« zunächst nicht in ihrer vollen Bedeutung in sein Bewußtsein aufnahm. Er hatte nur den unterwürfig-militärischen Ton des Stubenältesten und seine furchtsam-stramme Haltung erfaßt. Er war zufrieden, daß die Gefangenen offenbar keinen Aufruhr versuchten und daß das kostbare Leben der Wachtmeister also nicht gefährdet schien. Der Ton korrekter Unterwürfigkeit in der Meldung des Stubenältesten waren ihm ein Labsal und eine Ermutigung. Fast wollte er schon die Meldung als empfangen bestätigen, schon setzten sich seine Muskeln in Bewegung, um ein Nicken zustande zu bringen, da bemerkte er die Tatsache, die ihn nicht weniger erschütterte, als je einen Sterblichen die Voraussage des Weltuntergangs erschüttern konnte.

      Das Gitter des einen Stubenfensters war weit hinausgebogen.

      In Vürmann entstand eine Sekunde hindurch ein Wirbel der Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle.

      Dann hatte er begriffen. Im Saale schliefen 25 Gefangene; der Stubenälteste hatte gemeldet: 22 anwesend. Also fehlten drei Gefangene. Das Gitter war herausgelöst … drei waren durch das Fenster entflohen. Gefangenenflucht! Flucht der Gefangenen, für die Hinrich Vürmann verantwortlich war! Beförderung … Essig, Versetzung nach Celle oder gar nach Hannover … Essig. Vielleicht sogar …

      »Ihr Schweine! Ihr …« Vürmann fehlten einen Augenblick die Worte. Sein Stimmband krampfte sich. Seine Stirn lief rot an. Er ballte die Faust. »Ihr Ganoven, ihr Banditen … ihr haltet zusammen …« Vürmann stürzte zu dem Fenster. Er packte das Gitter, stellte fest, daß es noch in den oberen beiden Schrauben hing, und untersuchte die Fachwerkbalken, aus denen die übrigen vier Schrauben herausgelöst waren. Es wurde ihm sofort klar, daß das Gitter nicht herausgebrochen worden war, sondern daß jemand die Schrauben mit einem Schraubenschlüssel sachgemäß gelockert und herausgedreht haben mußte.

      Vürmann wandte sich wieder den Gefangenen zu, die sich in angemessener Entfernung respektvoll aufgestellt hatten. »Ihr … ihr … Schweinehunde … wer ist weg?«

      Der Stubenälteste trat einen Schritt vor und stand wieder so stramm, als es ihm möglich war. »Die Gefangenen Jan Möller, Christoph Wiesner, Franz Strom, Herr Wachtmeister!«

      »Seit wann wißt ihr denn das, ihr …«

      »Soeben bemerkt, Herr Wachtmeister, als Sie uns weckten.«

      »Ich helfe euch lügen, ihr Bande! Der Jan … der hat doch da oben geschlafen … gleich beim Fenster … den Kerl her, der im unteren Bett geschlafen hat … und nichts gemerkt haben will … den Kerl her …!«

      Der Schlosser trat zögernd vor.

      Vürmann sprang auf ihn zu, packte ihn am Arm und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. »Du Hund, du hast es gewußt, geholfen hast du ihm …!«

      »Herr Wacht …« Eine zweite Ohrfeige erstickte dem Gefangenen das Wort im Mund.

      »Halt die Schnauze, du Verbrecher! Beihilfe zur Flucht, das kostet dich noch was. Mach dich gefaßt!«

      Der Gefangene schwieg vorsichtshalber.

      »Himmelherrgott, verfluchte Wirtschaft …« Vürmann sah, daß sein zweiter Kamerad aus der Wachstube auch noch nachgekommen war. »Da haben wir die Bescherung!« schrie er ihm zu. »Drei Mann weg! Wir müssen sofort Meldung machen!«

      Die Vorstellung, daß jetzt der Hauptwachtmeister und Kommandoführer Vürmanns Blamage erfahren würde, schürte Hinrich Vürmanns Wut von neuem an.

      Er rannte im Saal umher und entdeckte, daß drei Laken fehlten.

      »Die Laken haben sie gestohlen! Wegen Diebstahls werden sie verurteilt, die Herren ›Politischen‹…!«

      An der Tür erschien ein weiterer Wachtmeister. »Zum Hauptwachtmeister!« gab er Vürmann zu verstehen.

      In der Kommandostube stand der Hauptwachtmeister schon am Telefon. Er empfing Vürmann mit einem vernichtenden Blick. Als er die telefonische Meldung gemacht hatte, legte er den Hörer knackend wieder auf die Gabel.

      »Der Marloh ist schön in Fahrt«, sagte er dabei vor sich hin.

      »Aber es wird alles alarmiert, bis zur holländischen Grenze hin. Bei den Kommunistenschweinen in Hamburg wird sofort Haussuchung gemacht! Wir kriegen die verfluchten Verbrecher heute noch wieder.«

      Wer Marloh war, das wußten alle im Zimmer Anwesenden. Marloh, geschworener Feind aller Kommunisten, berühmt und berüchtigt durch die Art und Weise, wie er neunundzwanzig rote Matrosen im Jahre 1919 hatte