Nun wurde abermals ein neues Kapitel aufgeschlagen. Nach allem, was wir sahen, würde es kein friedlicheres sein. Auch diese Seiten des großen Buches würden nicht unbeschrieben bleiben. Und jeder Eintrag erfolgte mit Blut.
Erst langsam und widerstrebend begannen wir zu begreifen, was uns da in den Schoß gefallen war, als wir Sina vom Thron gestoßen hatten. Wir waren nun seine Erben. Ob wir es wollten oder nicht. Aber dieses Erbe war vergiftet. Es lud uns eine Bürde auf, für die wir Schultern von Stahl benötigt hätten. Gut möglich, dass wir darunter zerbrachen.
Der Chronist II
Die Geschichte des Imperiums steht im Spannungsfeld von Zentrum und Peripherie, sie gehorcht der Dialektik anziehender und abstoßender Kräfte, die sich durchdringen und durchkreuzen und zwischen denen sich Interferenzen bilden. Das Imperium gravitiert um sein Zentrum, aber es expandiert auch über seine Ränder. Oft genug reicht sein kultureller, zivilisatorischer, ökonomischer und militärischer Einfluss weiter hinaus als sein formelles Territorium. Absorption und Einflussnahme durchmischen sich. Isolationistische und interventionistische Tendenzen bekämpfen sich. Zentripetale und zentrifugale Kräfte ringen miteinander, können einander die Waage halten oder wie ein Pendel vor und zurück schwingen. Die Große Politik kennt Ebben und Fluten, die unaufhörlich die Klippen der Macht umspülen und umbranden. Bisweilen kann sich dabei zur Unkenntlichkeit verwischen, was eigentlich Zentrum ist und was Peripherie.
Als Alexander in Babylon einzog, machte er die beunruhigende Erfahrung, dass Athen ein fernes Provinznest geworden zu sein schien, weit jenseits der Peripherie, von Pella zu schweigen, das auf der geistigen Landkarte der Perser nicht einmal existierte. Wenn es das Alexanderreich als Gebilde von geschichtlicher Dauer jemals gegeben hätte, wäre wohl Susa das Zentrum geworden oder Persepolis und ganz Griechenland wäre auf den Rang eines unbedeutenden Vorpostens zurückgefallen. Aber das Reich zerbrach, ehe es begründet war, in Diadochenstaaten. Die hellenistische Welt war zersplittert und multipolar. Auch Athen war nur ein Zentrum neben Alexandria und Syracus. Die frühe antike Welt mit ihrer Fixierung auf die Polis und ihrer Unfähigkeit zu territorialem Denken konnte gar nicht anders als polyzentrisch agieren. Das änderte sich mit dem Aufstieg Roms. Nun gab es eine Stadt, die Stadt. Doch im Lauf seiner Geschichte musste auch Rom erkennen, dass es Konkurrenz bekam – innerhalb des Reiches! Wie bei einer Zellteilung schnürten sich West- und Ostrom voneinander ab. In Konstantinopel bildete sich ein zweites Zentrum aus, bald ebenbürtig, am Ende sogar lebensfähiger. Es überdauerte den Untergang des ersten Rom um tausend Jahre. Vorausgegangen waren nicht nur ein Kirchenschisma, das auf das Nizäische Konzil zurückging, sondern eine militärische Belastung, die weniger eine Überdehnung als eine Deformierung war. Im Westen war das Reich seit Langem saturiert. Die natürliche Grenze des Atlantiks und die künstliche des Limes sorgten für Ruhe. Anders im Osten, wo es keine derartigen Grenzen gab. Die militärischen Aktivitäten verlagerten sich nach Nordosten und Osten: an den Unterlauf der Donau, nach Palästina und zu den ewig schwelenden Konflikten des Zweistromlandes, wo noch Jahrhunderte nach der Zerschlagung des Persischen Reiches Instabilität herrschte. Hinzu kam das kulturelle Übergewicht des Ostens, das Rom zur Peripherie seines eigenen Imperiums machte, bis das Reich an seiner Sollbruchstelle auseinander fiel.
Das Deutsche Reich war lange eine Ellipse, die um die beiden Zentren Berlin und Wien kreiste, was – nachdem das Heilige Römische Reich zerschmettert war – die großdeutsche Lösung einerseits naheliegend, andererseits kompliziert erscheinen ließ. Denn auf der anderen Seite war die k. u. k. Monarchie selbst eine Ellipse, die um die beiden Schwerpunkte von Wien und Budapest schwang. Auch sie ist daran zerbrochen. Die großdeutsche Lösung wurde nachgeholt, jedoch zu spät und mit furchtbaren Hypotheken belastet. Und als nach zwei verlorenen Weltkriegen mit geometrischer Folgerichtigkeit jenes Rumpf-Österreich übrig blieb, das die Schnittmenge aus Deutschsprachigkeit und k. u. k. repräsentierte, stellte sich heraus, dass sie erschreckend klein war.
Auch im Britischen Empire des Viktorianischen Zeitalters gab es Überlegungen, die Hauptstadt von London nach Delhi zu verlegen. England drohte zur Peripherie seines eigenen Imperiums zu werden, dessen Hauptmasse inzwischen in Südasien lag. Auch hier haben zwei Weltkriege, in denen man sich zu Tode siegte, und das anschließende Zerbrechen des Empires die Verhältnisse wieder gerade gerückt und ein Rumpf-Britannien zurückgelassen, das für einige Zeit ebenso wenig lebensfähig schien wie der zerstümmelte Torso der Donaumonarchie.
Das Imperium, so formulierte es der ältere Ash, auf den wir uns hier abermals berufen, organisiert Asymmetrie. Es lebt in der komplexen Fluktuation von Macht und Unterwerfung, von Geben und Nehmen, von Stabilität und Unterdrückung, von Freiheit und Zwang, von Eroberung und Integration und von Abfall und Separation. Das Zentrum kann blühen auf Kosten der Peripherie, die es dazu einige Jahrhunderte lang aussaugen mag. Aber es kann auch veröden und absterben zugunsten der Peripherie, die die robusteren Lebenskräfte hat und wie ein Absenker und Epiphyt den Faden der Geschichte weiterspinnt.
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Der Kongress war eröffnet. Kaum dass Salana seine Begrüßungsfloskeln gesprochen hatte, war das Plenum aufgelöst worden. Man war froh, dass das Ganze ohne Eklat über die Bühne gegangen war und dass alle Beteiligten am Leben geblieben waren. Die Vollversammlung hatte sich auf unbestimmt vertagt. Sie würde erst wieder zusammentreten, wenn es etwas gab, über das man debattieren und abstimmen konnte – und sei es nur eine Geschäftsordnung. Wir mussten erst den Sockel schaffen, auf dem wir Platz nehmen konnten, erst das Fundament legen, über dem wir unser gemeinsames Haus – wie die viel bemühte Politikermetapher lautete – errichten wollten. Und natürlich gab es hierbei am meisten Diskussionsbedarf.
Alles das wurde in die Ausschüsse verwiesen. Da diese selbst sich erst wieder eine Verfahrensregel und eine Tagesordnung geben mussten, wurden Unterausschüsse gegründet, die die Arbeit der Ausschüsse vorbereiteten. Dass das nicht ad infinitum so weiterging, rechnete man sich als große Leistung an. Salana und Flitebuca wandelten mit zufriedenem Gesicht die Gänge und Flure des Unionsquartiers entlang und rieben sich die Hände wie Geschäftsleute, die einen sensationellen Abschluss zur Unterschrift gebracht hatten. Sie waren Berufspolitiker, hohe Beamte, Staatsmänner auf dem neuen und riskanten Gebiet der interstellaren Angelegenheiten. Ihr Lebenselixier war die Verhandlung. Solange verhandelt wurde, waren sie zufrieden. Worüber und von wem – das war sekundär. Und ob etwas dabei herauskam – und was –, das interessierte sie eigentlich nicht. Erkundigungen danach taten sie als nicht ganz sachdienlich ab.
Sie waren Ingenieure der Macht. Und wie ein Ingenieur glücklich ist, solange er eine Maschine konstruieren kann – gleichgültig ob es ein Holobeamer ist oder ein Photonenjet –, so waren auch sie damit ausgefüllt, die Raffinements der Tagesordnungspunkte durchzusprechen oder mögliche Fraktionenbildungen zu antizipieren.
Es wurden Ausschüsse eingerichtet. Der würdevollste war natürlich der, der die Geschäftsordnung des Hohen Hauses zu erarbeiten hatte. Von ihm hing ab, wann und in welcher Zusammensetzung das Plenum das nächste Mal zusammentreten würde. Gut möglich, hieß es unter der Hand, dass einzelne Delegationen vorhatten, die Verhandlungen im Ausschuss zu verschleppen und bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hinzuziehen, sodass der Galaktische Kongress überhaupt nie seine eigentliche Arbeit aufnehmen würde. In den Unterausschüssen gab