Mutti will mich loswerden. Sie will sich hinlegen, überschlafen, weil ihr ständig schummrig ist vom vielen Grübeln, schoss es mir mit einer gewaltigen Portion Wut im Bauch durch den Kopf. Ich fühle mich hundeelend und würde mich am liebsten in einem Mauseloch verkriechen.
„Wenn `s sein muss!”, quetsche ich gerade noch so hervor, reiße meine Jacke vom Garderobenhaken und trample die knarrende Holztreppe unseres alten Mietshauses hinunter. An der Haustür scharrt Ole schon wie ein Huhn mit seinen schwarzen, kreuzweise gebundenen Springerstiefeln.
Ole stampft wie ein Krieger auf den mit grauen Brettern befestigten Weg neben den Dünen entlang voran in die Richtung, aus der er gekommen war. Ich folge ihm, ohne auch nur ein Wort sagen zu können. Ebenso Ole, er schweigt. Hin und wieder dreht Ole sich um und grinst mir zu. Er schwenkt energisch seinen großen Kopf, auf dem eine graue handgestrickte Wollmütze mit dicker Bommel sitzt und hebt seinen zu kurz geratenen Arm. Ole befiehlt mir, ihm zu folgen.
Warum folge ich ihm, frage ich mich unentwegt. Er, der verwöhnte Schweinehirt, der immer leckere Blut- und Leberwurstbrote in der Frühstückspause schmatzend isst, und ich, der beim bloßen Zugucken seiner Kaubewegungen Bauchkrämpfe bekomme. Manchmal reichte er mir ja ein kleines Stück seines Brotes, aber ich nahm es nicht.
Sagte nur: „Ich hab schon gefrühstückt. Wir erledigen so etwas zu Hause, Ole, vor der Schule, versteht sich.” Was natürlich glatt gelogen war, und ich hatte jedes Mal das Gefühl, er glaubt mir nicht. Er grinste mich immer so mies an, wenn ich log. Ich ließ diesen Fiesling dann einfach sitzen inmitten seiner Blut- und Leberwurstdünste und rannte aufs Klo, um am Waschbecken Wasser zu trinken. Damit mein knurrender Magen ein wenig ruhiger wurde.
Heute nun folge ich ihm bis an sein Gehöft oder besser gesagt, das seiner Eltern. Hinterm Hoftor, das fast doppelt so hoch ist wie ich, bellt ein Hund.
Ole sagt fest und bestimmt mit tiefer dunkler Stimme, die ich noch nie zuvor an ihm wahrgenommen habe: „Aus! Rex! Aus! – Aus! – Ich bin ‘s. Gleich wirst du Karl kennen lernen, meinen Freund!” Rex hört schlagartig auf zu kläffen.
Was sagt Ole da? Ich sei sein Freund? Was bildet Ole sich ein? Ich drehe mich um, ich will nach Hause … Doch Ole hat bereits das schrecklich quietschende Holztor weit geöffnet und ein alter Schäferhund mit schläfrigen Augen steht schwanzwedelnd vor mir. Er blickt mich respektvoll an. Ich kann nicht anders; ich muss Rex streicheln, ihn knuddeln wie Anne und Marie. Rex lässt sich alles gefallen, so als wäre ich sein wirklicher Freund und nicht Ole. Plötzlich kommt um die Ecke des Wohnhauses ein kleiner Terrier geprescht. Er springt wild an mir hoch und kläfft, als sei ich ein Schwerverbrecher.
„Blacky!”, mahnt Ole ihn zur Ruhe.
Der Winzling gehorcht, beschnuppert noch einmal aufgeregt meine Turnschuhe und schiebt seine kalte nasse Schnauze unter mein Hosenbein. Ich quietsche erschrocken auf, denn ich habe weder Socken noch eine Unterhose an. Der fast schwarze Unhold ist ebenfalls erschrocken. Er sieht mich noch einmal prüfend an; ich streichle ihm über sein strubbliges Fell, und er rennt, so schnell, wie er gekommen war, wieder davon.
„Karl, ich zeige dir alle unsere Tiere. Wir haben nicht nur Schweine”, sagt Ole, so als wolle er sie mir allesamt schenken, und ich hatte das Gefühl, dass Ole vor Freude innerlich ebenso wedelt wie Rex mit dem Schwanz.
Habe ich da richtig gehört? Karl hat Ole zu mir gesagt und mich nicht Hartzer genannt?
Und plötzlich spüre ich mich wachsen. Ich blicke auf den kleinen Ole herab, wie mein Vater, wenn ich eine Eins in Mathe mit nach Hause gebracht habe. Mein Herz hämmert so wild in der Brust wie der Specht auf der Suche nach einem Wurm, so sehr freue ich mich. Wir stapfen wie allerbeste Freunde im gleichen Schritt zuerst zum Schweinestall.
2. Kapitel
NICHT JEDER WUNSCH KANN SICH ERFÜLLEN
Im Vorraum des Stalls bleibt Ole stehen und sagt: „Zieh den Overall, die Stiefel und diese Handschuhe an, wegen der Keime, verstehst du? Außerdem würdest du ohne Schutzkleidung anfangen schrecklich zu stinken.” Ole nimmt einen Overall vom Haken an der Wand. Er reicht mir auch Gummihandschuhe, die über den Gummistiefeln direkt neben der Eingangstür zum Schweinestall liegen und bekleidet sich ebenfalls.
Ich pruste laut los, hopse vor Lachen um Ole herum. Wir sehen aus wie die Spusi in dem Krimi, den ich gestern heimlich in der Nacht gesehen hatte. Meine Mutter und meine Schwestern schliefen fest und tief und mein Vater war zu einem Vorstellungsgespräch in Bayern. So ist er für uns ein paar Tage lang nicht wirklich greifbar …
Ole hebt den Arm. Wir stapfen noch einmal kräftig auf der Desinfektionsmatte herum, die vor der Eingangstür des Schweinestalls liegt. Vorsichtig öffnet Ole die Tür, und plötzlich fangen die Schweine gewaltig an zu grunzen, zu schmatzen und zu quieken. Das ist ein so höllischer Lärm, lauter als in einem Popkonzert, wenn die Mädchen anfangen zu schreien und zu kreischen. Ich bleibe stehen, halte mir die Ohren zu, doch das Gequieke dringt durch die Hände hindurch und vernebelt mir den Verstand.
Ole aber stiefelt voran. Er grüßt die Schweine gelassen zurück, bis er sie endlich beruhigt hat und sie nur noch ein bisschen schmatzen und grunzen. Ich nehme die Hände von den Ohren und folge ihm wieder dicht auf den Fersen.
Vor einer Schweinebucht bleibt Ole stehen und sagt völlig rot im Gesicht: „Siehst du die kleinen rosa Ferkelchen da? Das sind genau zwölf Stück. Die hat unsere Melanie vorgestern geworfen. Sind die nicht süß?” Ole glüht vor Begeisterung und zieht mich am Ärmel.
Neugierig trete ich zur nächsten Bucht, über der eine große Rotlichtlampe hängt, welche die Ferkel und ihre Mutter wärmen, klärt mich Ole auf. Alle liegen auf frischem Stroh und die Ferkel trinken von den Zitzen der Muttersau schmatzend ihre Milch.
„Haben alle deine Schweine einen Namen?”, frage ich, denn Melanie nennt man kein Schwein, saust es mir immerfort durch den Kopf … „Melanie heißt doch unsere Klassenbeste in der Schule.”
„Ja”, sagt Ole, als sei es das Allernormalste auf der Welt, dass ein Schwein den Namen unserer Klassenbesten trägt.
Ich schaue Ole empört an.
„Alle Schweine bekommen von mir einen Namen”, sagt Ole und zuckt mit den Schultern, was so viel heißt wie: Mir doch wurscht, wenn auch unsere Streberin dabei ist.
Ich trete zur nächsten Bucht. Neugierig beäugen uns mehrere Schweine. Ich zeige auf ein besonders dickes Schwein mit kleinen Stoßzähnen, das vergnügt mit seinem Ringelschwanz wedelt und frage: „Und wie heißt das da?”
„Das ist ein Eber, der Vater von den Ferkelchen, und der heißt bei mir Kalle”, sagt Ole jetzt so rot wie das Schwein.
„Kalle? Wie unser Kalle, der mit dem Irokesenschnitt?”
„Ja, Kalle ist doch mächtig verknallt in Melanie”, antwortet Ole mit Schweißperlen auf der Nase und Stirn.
„Wie viele Schweine habt ihr eigentlich?”, frage ich und wechsle ständig von einem Bein auf das andere.
„Sieben. In einer Schweinemastanlage sind manchmal weit über hundert oder über tausend. Siehst du, dort draußen dürfen unsere Schweine sogar im Schlamm wühlen, also sich suhlen, wenn sie das wollen. – Das können die Schweine in vielen Mästereien nämlich nicht, sagt mein Vater. – Wir wollen ja nur ein bisschen Geld nebenbei verdienen. Für eine Solaranlage, verstehst du?”, und Ole schaufelt weichgekocht zerstampfte Kartoffeln in den Futtertrog der Bucht.
Ich habe verstanden, schaue den aufgeregt grunzenden und mit ihrem Rüssel im Kartoffelmatsch wühlenden und fressenden Schweinen unruhig zu und frage Ole so leise, dass ich meine Frage selbst kaum hören kann: „Heißt eines deiner Schweine hier vielleicht auch so wie ich, also Karl oder Hartzer oder gar Hieferle?”
Ole schabt erschrocken mit seinen Stiefelspitzen auf dem blankgescheuerten Betonfußboden herum. Nach einer langen Pause sieht er mich entsetzt an: „Du bist doch mein Freund! Ich würde nie ein Schwein nach dir benennen.”