Ich bin Karl. Monika Strübing. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Monika Strübing
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783957444400
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Kapitel

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      1. Kapitel

      WIE ICH EINEN FREUND BEKAM

      Ich bin Karl und wohne in Seemannsgarnhausen. Ich habe meinen Wohnort deshalb so getauft, weil meine Verwandten, die hier leben, nur Lügenbarone sind. Mein Vater sagte das einmal zu mir. Ob alle Menschen in Seemannsgarnhausen so viel lügen, weiß ich nicht. Unser Haus steht hinter einer Sanddüne und da bekommt man nicht alles mit. Wenn ich das Fenster öffne, höre ich die Möwen schreien und sehe bei heftigen Stürmen die Wellenkämme der Ostsee schäumen. Aber bei Windstille ist das Wasser spiegelglatt und schillert wie die Haare einer Seejungfrau. Bei uns riecht es immer ein bisschen nach Seegras und Fisch. Aber einen Fischer haben wir nicht mehr in Seemannsgarnhausen. Nur ein morsches Fischerboot, das in den Dünen liegt. Wir müssen Fisch im Supermarkt kaufen. Doch dort ist er Mutter zu teuer. Vater bringt Heringe und Flundern von einem Fischer aus dem Nachbarort mit. Der verkauft ihn billiger, sagt mein Vater.

      Weil ich so mager bin, nennt meine Mutter, die in Sachsen geboren wurde, mich sehr oft Hieferle. Hier im Norden ruft man solch ein Hieferle, wie ich einer bin, gern auch: He, du Spacki. Ihr versteht, wen ich da meine?

      Meine Eltern sind Hartzer und das schon zum vierten Mal. Ich weiß eigentlich gar nicht genau, was ein Hartzer, also Hartz IV ist. Ich weiß nur, dass meine Eltern arbeitslos sind. Mein Vater war ein geachteter Bauzeichner. Seine Zeichnungen, die er auf dem Reißbrett gepinnt hatte, sahen super aus, so genau und ordentlich, kein Fleck war auf dem Papier zu sehen. Könnt ihr euch das vorstellen, nicht ein piepsig lütter Fleck? Ich hatte jedes Krümelchen, jede noch so mickrig kleine Faser des Papiers mit der Lupe untersucht und fand wirklich nichts.

      Neulich beschloss ich, auch meine Mutter zu untersuchen, die jeden Nachmittag lang ausgestreckt auf dem Sofa liegt und schläft. Ich holte meine Lupe, beugte mich über sie und betrachtete meine Mutter von allen Seiten. Ich wollte nun endlich wissen, was es mit dem Harz so auf sich hat. Ein Förster, den wir auf einem Spaziergang durch den Wald vor ewig langer Zeit einmal trafen, erzählte uns, dass Bäume harzen. Ich weiß, meine Mutter ist kein Baum, sondern ein Mensch, und die harzen bekanntlich nicht. Oder harzen wir vielleicht doch? Ich suchte jedenfalls Zentimeter für Zentimeter meiner Mutter nach Harz ab. Pore für Pore nahm ich sie unter die Lupe und sah nur große Schweißperlen auf ihrer Stirn und auf der Nase. Meine Mutter harzt nicht, stellte ich am Schluss meiner Untersuchung fest.

      Auch dachte ich, dass ich vielleicht stinke. Kennt ihr den Harzer Käse? Die kleinen aneinander gepappten dicken Taler, die meist in schnüffelsicherer Folie eingepackt sind? Mein Vater isst den Käse fast jeden Abend und anschließend lüftet meine Mutter immer. Ich beroch mich also, beschnupperte meine Sachen, und mir wurde klar: Ich stinke nicht nach dem Käse!

      Aber warum rufen sie in der Schule immer, wenn ich komme: „Achtung, der Hartzer kommt”, und schubsen mich weg, wenn ich mich neben sie stelle?

      Ich dusche doch jeden Morgen bevor ich in die Schule gehe und wasche mich mit der Seife meines Vaters, denn die juckt nicht so wie Mutters Duschgel. Meine Mutter würde außerdem zum Brüllaffen, wenn ich nicht duschen würde. Und aus dem Harz, einem Gebirge im Süden Deutschlands, wo die Brockenhexen auf ihren Besen um den Brocken fliegen, komme ich auch nicht. Das ist ein Pommernjung, sagte mein Vater deutlich zu einem ehemaligen Arbeitskollegen. Ich stand dabei.

      Mein Vater hatte glänzende Augen und beklopfte mir die Schultern, sodass ich fast vornüber fiel. Das tut er immer, wenn er stolz auf mich ist. Wie ihr merkt, auch dieser Harzer bin ich nicht.

      Ich bin mit meinem Namen Karl doch vollkommen zufrieden. Karl hieß schon mein Urgroßvater, der mutig im vergangenen Jahrhundert gegen die Nazis kämpfte, im Untergrund versteht sich. Und so ist es mir eine Ehre, diesen Namen tragen zu dürfen. Den Namen Hieferle, wie meine Eltern mich manchmal rufen, verstehe ich ja noch.

      Seit meine Eltern keine Arbeit mehr haben, gehen wir auch nicht mehr in den Wald oder in die Sonne an den Strand und zum Baden. Ich glaube, meine Eltern schämen sich, weil sie schon lange arbeitslos sind. Viele Leute im Ort scheinen das zu wissen, denn sie grüßen nicht. Tja, so bin ich blass und dünn, also hiefrig, denn bei uns gibt es sehr oft nur Suppe, und die macht ja bekanntlich nicht dick.

      „Mehr können wir uns nicht leisten”, sagte meine Mutter neulich, als ich mich beschwerte und winkte sogar verächtlich mit der Hand. Sie zeigte auf meine beiden kleineren Schwestern, die man nicht einmal mit der Lupe auseinanderhalten kann, so ähnlich sehen sie sich.

      „Anne und Marie brauchen neue Anoraks und Schuhe für den Winter. Wir müssen haushalten”, schluchzte meine Mutter nach ihrer verächtlichen Handbewegung. Mir wurde übel, und ich hatte nur noch eine Frage: „Aber den Wald können wir uns doch leisten, oder muss man dort jetzt auch bezahlen?!”

      Ich bin schon lange nicht mehr im Wald gewesen, weil meine Eltern es mir verboten haben, allein hinzugehen. Im oder am Rande des Waldes, wo genau wusste meine Mutter nicht, hätten Rumtreiber mit Glatze sich ein Grundstück mit Haus gekauft, einen hohen Zaun darum errichtet und würden nun dort hausen. Auf die Frage, wer diese Rumtreiber sind, bekam ich keine Antwort. Meine Eltern wollen mich schützen, das weiß ich, mehr weiß ich aber nicht.

      „Der Wald kostet nichts”, sagte meine Mutter, „den haben wir umsonst, wenn nicht diese Nazis …” Meine Mutter stockte. „Wie lange der Wald aber kostenfrei bleibt, steht in den Sternen”, beendete meine Mutter das Gespräch mit mir.

      Ich schaue aus dem Fenster zum Himmel. Da leuchtet die Sonne so schön im Zenit, und ich würde allzu gern mit meinen Freunden spielen gehen … Vielleicht sind es doch keine echten Freunde? Denn seit ich Hartzer bin, will keiner mehr mit mir um die Wette laufen und so. Dauernd haben sie irgendetwas vor oder müssen dringend lernen.

      Meine Nase kitzelt von der Frühjahrssonne; ich muss niesen.

      Da kommt ja Ole den Dünenweg entlang geschlendert.

      Er grient zu mir hoch: „Na, was ist, willst mit mir eine Runde am Computer spielen? Kämpfen mit den Aliens”, und er macht einen gewaltig großen Ausfallschritt mit einem unsichtbarem Schwert, fuchtelt und stochert damit in der Luft herum und schreit: „Ich bin ein Champion. Ich …!“

      Lust habe ich schon, aber mit Ole? Ich will ihn nicht zum Freund. Ole brachte Frösche zum Platzen und machte noch andere widerliche Dinge. Außerdem riecht er immer ein bisschen nach Schwein. Oles Eltern haben am Rande des Ortes einen Bauernhof.

      „Ole liebt vor allem Schweine, und was liebt ihr?”, fragte Frau Bullerjahn, unsere Klassenlehrerin.

      Ich weiß nicht, was ich liebe, ich weiß nur, was ich hasse. Nämlich den Hartzer in oder an mir, der mich verfolgt bis in den Schlaf. So antwortete ich Frau Bullerjahn auf die blödeste aller blöden Fragen damals einfach nicht. Nicht eine Silbe schob ich zwischen die Lippen hindurch. Ich grinste sie nur an und lachte über ihr ausgeleiertes braunes Kostüm, das den Lumpen einer Vogelscheuche glich. Wütend schmiss ich ihr meinen Radiergummi hinterher, aber Frau Bullerjahn reagierte nicht darauf; was mich natürlich ärgerte. Ach ja, und ich hasse auch Oles Schweinegeruch. Kürzlich quoll mir die Nase davon so sehr auf, dass sie mir beim Niesen fast explodierte. – Wie kann man nur Schweine lieben? – Igitt!

      Also lehne ich mich lässig aus dem Fenster und sage zu Ole: „Habe keinen Computer, ein anderes Mal vielleicht …”, und erschrak plötzlich, denn die letzten Worte hätte ich mir verkneifen müssen. Ich halte die Luft an, um mich nicht um Kopf und Kragen zu reden.

      „Geh