Noch bevor die Sonne hoch am Himmel stand, hatte Emily eine weite Strecke bezwungen, jedoch kein Haus weit und breit entdeckt. Sie rastete kurz und ritt dann in ruhigem Tempo weiter, bis sie einen geeigneten Lagerplatz fand. Ein kleines Wäldchen spendete ein wenig Schutz und ein klarer Bach lud zu einem erfrischenden Bade ein. Diesmal richtete sich Emily eine richtige Schlafstatt. Nach einer kräftigen Mahlzeit, die aus Brot, kaltem Fleisch, Käse, Obst und einigen Nüssen bestand, legte sich Emily auf ihre Decken und schlief bald ein. Doch auch diese Nacht verlief unruhig. In seltsame Träume verstrickt wälzte sich Emily hin und her, bis sie die Augen aufschlug. Etwas hatte sie geweckt. Sie blickte hastig rings umher, doch nichts außer ihrer Stute war bei ihr – oder? Zwischen den Bäumen blitzten zwei strahlend blaue Punkte auf, waren aber sofort wieder verschwunden, so dass Emily sich fragte, ob sie überhaupt da gewesen waren. Beunruhigt legte sie sich wieder hin und schlief ein. Doch bis zum Morgen verlief ihr Schlaf nun ungestört und sie erwachte erfrischt und munter.
So verging die Zeit. Bei Tag ritt sie durch grüne Wiesen, an brachliegenden Feldern vorbei, durch Laub- und Nadelwälder, über schmale Pfade und breite, ausgefahrene Wege und zum Abend suchte sie sich geschützte Plätze an Waldrändern. In jeder Nacht schreckte sie aus dem Schlaf, aber jedes Mal entdeckte sie die zwei blauen Punkte, die so merkwürdig strahlten und verschwanden, sobald Emilies Blick sie gefunden hatte. Mit der Zeit gewöhnte sie sich daran und fühlte sich seltsam beschützt und schlief tief und fest.
Endlich – am Mittag des zehnten Tages – entdeckte Emily die mit Reed bedeckten Dächer einer kleinen Siedlung. Froh, endlich wieder andere Menschen zu sehen, trieb sie Rubina zu einem schnelleren Trab an. Das Dorf war klein und machte einen verschlafenen Eindruck. Der Gasthof war heruntergekommen und schäbig, trotzdem mietete sich Emily dort ein. Sie hatte nämlich einen kleinen Beutel mit Münzen entdeckt, den ihr Vater ganz unten in ihrem Proviantbeutel versteckt hatte und war froh, wieder einmal in einem richtigen Bett schlafen zu können. Obwohl der Gasthof von außen nicht gerade einladend gewirkt hatte, entpuppte er sich von innen als sehr gemütlich und die Wirtsleute waren liebe Menschen, die sich um Emilys Wohlergehen sehr bemühten. Ihr Zimmer war peinlich sauber, die Matratze weich und das Essen reichlich und gut. Emily fühlte sich fast wie zu Hause. Trotzdem dachte sie an ihre Eltern und fragte sich, wie Elric wohl auf ihre Flucht reagiert haben mochte. Sie betete, dass es ihnen gut gehen möge und das Elric seine Wut nicht an ihnen ausgelassen hatte.
Emily blieb ein paar Tage im Dorf. Zum einen, um sich von der langen und anstrengenden Reise zu erholen und zum andern, um sich einen vernünftigen Plan auszudenken, wie und wo sie mit der Suche nach ihrer Herkunft beginnen sollte. Denn obwohl sie das nur als Ausrede benutzt hatte, um die Flucht vor Elric zu rechtfertigen, hatte sie schon längst beschlossen, wirklich nach ihren Wurzeln zu suchen. Sie spazierte jeden Tag durch die Wiesen rings um das Dorf, dachte angestrengt nach, ersann jenen Plan und dann wieder einen anderen, nur um dann alle zu verwerfen. Wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Ahnung wie sie mit der Suche beginnen sollte.
Wieder einmal saß Emily missmutig im Gras und zupfte gedankenverloren an einer gelben Blume.
»Guten Tag«, riss sie eine freundliche Frauenstimme aus ihren trüben Gedanken. Emily schaute erschrocken auf. Vor ihr stand eine alte Frau mit schlohweißen Haaren, die, zu einem dicken Zopf geflochten, bis zu ihren Hüften reichten. In ihrem wettergegerbten Gesicht funkelten zwei blitzblaue Augen zu Emily herunter und die vielen Runzeln zeugten von einem langen und arbeitsreichen Leben.
»Hat Euch die Blume so viel Leid zugefügt oder hadert Ihr ganz allgemein mit der Welt?«
Emily schaute stirnrunzelnd auf die völlig zerrupfte Blüte in ihrer Hand und lief rosarot an.
»Ja … Nein … Ja … weder noch«, stotterte Emily und verstummte verlegen. Die alte Frau lächelte und ließ sich nach einer kleinen Weile neben Emily ins Gras sinken.
»Ich bin Mildred«, stellte sie sich vor, blickte sie von der Seite her an und nahm ihr sanft die Reste der gelben Blume aus der Hand und betrachtete sie eingehend.
»Nun, was bedrückt Euch so, dass Ihr ein armes Kräutlein so behandeln müsst?«
Emily starrte auf ihre nun leeren Hände. Bisher hatte sie noch nie mit jemandem über ihre Sorgen und Nöte gesprochen, außer mit ihren Eltern natürlich, aber die waren weit entfernt. Sie lächelte die Frau schüchtern an und sagte:
»Mein Name ist Emily«, und verstummte wieder. Sie fand es schwierig, mit einer völlig Fremden zu reden.
»Emily. Ein schöner Name. Ihr seid aber nicht aus dieser Gegend, nicht wahr?«
»Nein. Mein Dorf liegt zehn oder elf Tagesritte von hier entfernt.«
»Und was bringt Euch hierher? Verzeiht meine Neugier, aber zu uns verirren sich selten Menschen.«
Emily überlegte, ob sie Mildred von Elric erzählen sollte, entschied sich dann aber doch dafür, ihr lieber von der Suche nach ihrer Herkunft zu erzählen.
»Seht Ihr«, begann sie zögernd, »ich wurde als Baby ausgesetzt.«
»Wie schrecklich«, unterbrach sie Mildred.
»Ja und nein. Ich wurde von sehr lieben Menschen gefunden, die mich wie ihre eigene Tochter großgezogen haben. Aber sie konnten mir nie sagen, wo ich eigentlich herkomme.«
»Wann haben sie Euch gesagt, dass Ihr nicht die leibliche Tochter seid?«, fragte Mildred.
»Als ich fünf war. Die Kinder im Dorf hatten mich, wie so oft, geärgert und gesagt, dass ich gar keine Ähnlichkeit mit meinen Eltern hätte. Sie sagten …«
Emily schluckte, als sie an diesen Augenblick zurückdachte. »Sie sagten, ich wäre bestimmt ein Wechselbalg und würde nicht zu ihnen gehören. Als ich weinend nach Hause lief, fragte mich meine Mutter nach dem Grund, und als ich ihr von den vielen bösen Dingen erzählt hatte, die die Kinder über mich sagten, erzählte sie mir die Wahrheit. Dass sie mich als Baby im Wald gefunden und sich um mich gekümmert hätten. Und als niemand kam, um mich zu holen, hätten sie und ihr Mann beschlossen, mich als ihre Tochter zu behalten. Ich war damals sehr traurig darüber, dass mich meine leiblichen Eltern einfach im Stich gelassen hatten, aber Maude und Horace haben mir nie das Gefühl gegeben, dass ich nicht zu ihnen gehören würde. Sie haben mich immer sehr geliebt.« Emily schwieg.
»Und jetzt möchtet Ihr doch wissen, wer Eure wahren Eltern sind?«, half ihr Mildred weiter.
»Ja.« Emily biss sich auf die Lippen.
»Zu meinem letzten Geburtstag bekam ich von meinen Eltern ein Pferd und ein Schwert. Mein Vater sagte, dass das Schwert neben mir im Wald gelegen hätte und vielleicht ein Hinweis auf meine Herkunft sein könnte. Deshalb habe ich mich auf diese Reise begeben. Vielleicht finde ich jemanden, der dieses Schwert erkennt.«
Wieder verstummte Emily, denn sie hatte soeben erkannt, wie sie ihre Suche beginnen musste.
»Gibt es hier im Dorf einen Waffenschmied?«, fragte sie Mildred ganz aufgeregt. Ein guter Waffenschmied würde das Schwert bestimmt erkennen.
»Der alte Gavin«, antwortete Mildred. »Er wohnt gleich hinter dem Stall beim Gasthof. Jetzt beschlägt er eigentlich nur noch die Pferde, aber früher hat er auch Waffen geschmiedet. Da bin ich mir sicher.«
Emily wollte schon aufspringen, aber Mildred hielt sie zurück.
»Ihr solltet besser nicht allein zu ihm gehen.«
»Warum denn nicht?«, fragte Emily erstaunt.
»Er mag Menschen nicht besonders.«
»Hm«, überlegte Emily. Dann strahlte sie Mildred an und sagte fröhlich. »Dann nehme ich eben mein Pferd mit.«
Munter sprang sie auf und lief über die Wiese. Mildred schaute ihr belustigt hinterher, als Emily plötzlich stehen blieb, ihr ein »Dankeschön« zurief und davonsprang.
Emilies erster Weg führte sie zum Gasthof, wo sie ihr Schwert holte. Dann eilte sie zum Stall, sattelte Rubina, steckte das Schwert unter