Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950. Heinz Scholz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinz Scholz
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783867775625
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eine breitere Zustimmung zur Hitler-Regierung. Vielleicht hielten sich auch kritische Stimmen vorsichtiger zurück. Teils kam schon naive Begeisterung für Hitler auf, der nun „über das Radio“ öfter zündende Reden an das Volk hielt. Er wandte sich an die „Volksgenossen“, an das „ganze deutsche Volk“ und rührte an die nationale und soziale Seele der kleinen Leute. Und wer zu ihnen „gut reden“ konnte, der war sowieso gut angesehen.

      Meine Eltern besaßen in jenen Jahren noch kein Radio. Die Nachbarn von nebenan luden uns ein: „Heute obend sprricht Hittler! Ierr kennt kummen, wenn ierr wullt.“ Wir gingen, und ich durfte mit. So hörte man zu und konnte sich einer gewissen Faszination nicht erwehren. Selbst ich als Zehnjähriger glaubte, viel zu verstehen von dem, was dieser Hitler sagte. Es beeindruckte mich auch, wie er sprach: wie er die Stimme energisch anhob, wie er mahnend zur „nationalen Erhebung“ aufforderte, wie er den „Novemberverbrechern“ drohte, wie er schrie oder wiederum geschickt besänftigte und auf unerklärliche Weise zu überzeugen vermochte. Die Erwachsenen in der Runde nickten öfter mit dem Kopf. Man war sich zumindest einig: „Ein großer Redner“ – und war nicht weit davon entfernt zu sagen: „Ein großer Mann.“

      Eine derartige Breitenwirkung war natürlich jetzt, in den Dreißiger Jahren, erstmals möglich mit Hilfe des Radios. Der Rundfunk hatte seinen Siegeszug angetreten, und das Hitler-Regime nutzte das neue Medium Rundfunk für seine propagandistischen Kampagnen geschickt, rücksichtslos und erfolgreich aus. Rücksichtslos insofern, weil sich Hitlers Propaganda-Ministerium nach der Machtübernahme sofort der Rundfunkanstalten bemächtigt hatte. Sogleich sorgte man auch dafür, dass Rundfunkgeräte „für das Volk“ hergestellt wurden. Wenig später, aber noch in den Jahren vor dem Krieg, konnte sich fast jeder wenigstens einen „Volksempfänger“ leisten und mittels einer aufwendigen, sichtbaren Außenantenne die „große Politik“ und alles, was ihr dienen sollte, ins eigene kleine Haus hereinholen.

      1936 konnte unser Vater, wenn auch keinen neuen Volksempfänger, so doch einen gebrauchten „Radioapparat“ auf Abzahlung vom Radio-Händler kaufen. Wir hörten nun vor allem den „Reichssender Breslau“ und den „Deutschlandsender“. Und alles, was in unserer Stube aus dem Radio herauskam, war eigentlich gut und schön und niemals gegen den Nationalsozialismus gerichtet. Im Gegenteil: Jeder stolz verkündete Sieg der deutschen Autorennfahrer, ob durch Stuck, Caracciola oder Rosemeier, ob auf Mercedes oder Auto-Union, jeder deutsche Sieg bei internationalen Sportwettkämpfen, jede übertragene Eröffnung einer neuen Autobahnstrecke oder die Übertragung des Breslauer Sängerfestes oder ein abendfüllendes Militärkonzert, nicht zu vergessen die beliebten Unterhaltungskonzerte unter der Leitung von Karl Woitschach und Otto Dobrindt, all solche sportlichen oder kulturellen Leistungen wurden propagandistisch zu einem Gewinn für die Hitlerherrschaft umgemünzt. Und die allabendlich gesprochenen Nachrichten des „Reichsrundfunks“ waren natürlich die Nachrichten, die das Propagandaministerium unter Goebbels konzipiert und vorgegeben hatte. – Nirgends mehr eine Widerrede! Keine Gegendarstellung! Keine politischen Kontroversen! Jeder hörte nur das, was er hören sollte.

      Natürlich waren auch die Zeitungen und Zeitschriften längst in das gleichgerichtete Fahrwasser der Nazipropaganda gezogen worden. Wir konnten lesen von den großen Leistungen der Hitlerregierung, vom „wohlbringenden Arbeitsbeschaffungsplan des Führers“, vom „Aufblühen der Wirtschaft“, vom „stolzen Gedeihen einer nationalsozialistischen Kunst und Kultur“, von der „gewachsenen Wehrhaftigkeit unserer deutschen Soldaten“ und dgl. mehr.

      Derartiges stand nun auch im „Löwenberger Anzeiger“, einem einst bürgerlich-liberalen Blatt, das Vater nach dem Verbot der sozialdemokratischen „Volksstimme“ abonniert hatte und bei uns im Hinterdorf von Katke Marie ausgetragen wurde. Dieses Kreisblatt war ausgerichtet nach dem von der NSDAP herausgegebenen überregionalen „Hirschberger Beobachter“, der wiederum der nazistischen Führungs-Zeitung folgte, dem „Völkischen Beobachter“ aus der Berliner Propagandazentrale.

      Die Zeitungen, die wir Dorfbewohner in die Hand bekamen, waren also „gleichgeschaltet“. Mit der Zeit glaubten immer mehr Leute das oder an das, was in der Zeitung zu lesen stand und was das Radio verkündete. Sicherlich wird es im Dorf auch politisch erfahrene oder gebildetere Leute gegeben haben, die sich der gefährlichen Folgen dieser einseitigen Beeinflussung bewusst waren, aber sich öffentlich schon nicht mehr kritisch zu äußern wagten. So bildete sich – wenn ich das richtig gesehen habe – in ein – zwei Jahren unter vielen Leuten im Dorf die Meinung heraus, es ginge doch jetzt etwas vorwärts, fast alle hätten nun Arbeit, verdienten auch ein wenig mehr als früher, es gäbe keinen Parteienstreit und man fühle sich im allgemeinen sicherer.

      Die aktiven Hitleranhänger rühmten diese Erfolge und traten immer selbstbewusster an die Öffentlichkeit, und an den staatlich verordneten Feiertagen hängten immer mehr Leute eine neue Hakenkreuzfahne zum Fenster hinaus. In der Kreisstadt, am Markt und in den Straßen, staunte ich über die vielen Fahnen. Man glaubte sehen zu können: Da hat sich allerhand verändert, „so viele sind jetzt schon für Hitler!“

      Auch unser Lehrer, in unserer Dorfschule, trug dann irgendwann das runde Hakenkreuzabzeichen auf seinem Rockaufschlag. Er war der Hitlerpartei beigetreten. Wir Kinder haben das einfach so hingenommen. Nur mein Vater hat da eine abfällige Bemerkung gemacht, obwohl mir inzwischen schien, dass er dem Hitler auch nicht mehr ganz so abgeneigt war wie vielleicht 1932.

      In der Schule

      Ehe ich von der Schule und von meinen Schulerfahrungen berichte, will ich von einer Begebenheit erzählen, die sich in enger Verbindung zur Schule zugetragen hat: Im Mai/​Juni des Jahres 1934 müsste es gewesen sein, da wurde ich auf einmal aufmerksam gemacht auf das „Deutsche Jungvolk“. Diese von der Nazipartei gegründete und geführte Kinderorganisation für Jungen bis zu 14 Jahren hatte mich 9-jährigen vorher nicht sonderlich interessiert. Doch jetzt hörte ich mehrfach von den älteren Schülern unserer Schule, wie schön und interessant es wäre, Mitglied in diesem „Jungvolk“ zu sein. Vor allem des Samstags sprach man davon, wenn mehrere der größeren Jungen im Unterricht fehlten. „Die sind zum Staatsjugendtag“, so hieß es. Bald sprach sich herum: Wer Mitglied des „Jungvolks“ ist oder wird, braucht sonnabends nicht am Schulunterricht teilzunehmen, denn der Sonnabend ist der „Staatsjugendtag“, und da hat jeder Jungvolkjunge (auch Pimpf genannt) den ganzen Tag „Jungvolkdienst“! „Dienst“, das bedeutete Marschieren, Lieder lernen, Exerzieren, sportliche Spiele, vor allem aber Geländespiele, was mich mächtig anzog. Dazu gehörten auch Übungen im Zeltaufbau, Einrichten eines Lagers, Anlegen einer Kochstelle, Orientieren im Gelände und lauter solche schönen Sachen! Besonders reizvoll erschien mir das Abkochen im Freien. Das wäre doch ein riesiger Spaß, über einem offenen Feuer in einem großen Lager-Kochtopf eine schmackhafte Suppe zu kochen! Überhaupt: das Ganze – wie abenteuerlich! Hinzu kam der außergewöhnliche Reiz: Man durfte einfach von der Schule wegbleiben, und der Lehrer konnte gar nichts dagegen machen! So fragte ich mich natürlich, was ich da tun müsste, um beim Staatsjugendtag dabei sein zu können. Ich war zwar erst 9 Jahre alt, aber ein unternehmungslustiger Junge. Also nichts wie hin – und hinein in das Jungvolk, damit ich am Sonnabend mit den anderen hinausziehen kann … . So meldete ich mich mündlich beim „Jungenschaftsführer“ an, ohne dass Lehrer und Eltern davon wussten, und zog am nächsten Sonnabend mit. Wir marschierten am frühen Morgen in das Nachbardorf Walditz, trafen uns dort mit „Jungenschaften“ aus Nachbardörfern, zogen ins Gelände und hatten dann einen unheimlich interessanten und aufregenden Tag. Aufregend auch noch deswegen, weil mich trotz aller Begeisterung zwischendurch das schlechte Gewissen plagte: Wird das gutgehen, wenn ich heimkomme? Doch die Begeisterung nahm wieder Überhand, als wir die auf offener Feuerstelle gekochte Erbsensuppe in uns hineinschlangen.

      Nun ja, Vater hat mir nach meiner Rückkehr die Leviten gelesen, ist aber über ernsthafte Drohungen nicht hinausgegangen. Schlimmeres fürchtete ich am Montag in der Schule. Der Lehrer, längst informiert über die Gründe meines Fehlens, nahm mich vor: „Bahner, warum warst du am Sonnabend nicht in der Schule?“ Ich versuchte zaghaft, mich zu rechtfertigen: Das sei doch erlaubt für Jungvolkjungen, die anderen seien ja auch mitgewesen …., da ja „Staatsjugendtag“ … und so fort. – „Aber erst, wenn man zehn Jahre alt geworden ist! Du bist erst