(aus: Heimatbuch des Kreises Löwenberg in Schlesien)
Statt eines Vorworts
Aus einem Brief an meine Enkeltochter … am 01. 09. 1990
Liebe Franziska,
bei Deiner Vorbereitung auf das Referat über die Hitler-Diktatur in Euerem Geschichtsunterricht hast Du mich nach Fakten und Meinungen gefragt. Indem wir daraufhin ins Gespräch kamen, hattest Du gemeint, ich solle doch mehr erzählen von meinen Erlebnissen und Erfahrungen in Kindheit und Jugend während der NS-Zeit – möglichst auch schriftlich. Zuerst habe ich gezögert: Wie das alles machen? Wo anfangen, wo aufhören? Wie werde ich damit fertig? – Nun will ich es gern versuchen und Deinem Wunsche nachkommen, wenngleich ich mir nicht schlüssig bin, wie ich vorgehen müsste. Sagen wir so: Ich will ganz einfach beginnen aufzuschreiben, wie es uns jungen Leuten von damals, uns schlesischen Dorfkindern und Jugendlichen, in Nazideutschland ergangen ist, wie ich diese kurze Geschichtsära von 1933 – 1945 bis in die Nachkriegsjahre hinein bewusst miterlebt, durchlebt … und was ich dabei erfahren, gedacht, gefühlt und getan habe und wieso ich zu guter Letzt hier in Gotha angekommen bin.
Dies alles natürlich aus rein subjektiver Sicht nach meinen ganz persönlichen Wahrnehmungen und Erinnerungen, möglichst ehrlich und redlich – nach bestem Wissen und Gewissen – und authentisch!
Ich will mich da als ein Zeitzeuge verstehen, der denkt, dass manches historische Geschehen aus dem Großen und Ganzen der jüngsten Geschichte vielleicht anschaulicher und verständlicher werden kann durch subjektiv erzählte „Geschichte(n) kleiner Leute … “
Dein Großvater Heinz
Bahnerfamilie mit Kuh
1933 war ich 8 Jahre alt. Was weiß man da schon von der großen Politik! In solch einem Kindesalter folgt man den Ansichten der Eltern. Was die für richtig halten, hält man auch selber für richtig.
Unser Vater war arbeitslos, von der Bahn, der „ … Reichsbahn“, entlassen, mit anderen seiner Kollegen. Man ging „stempeln“, das heißt, einmal in der Woche musste er in der Kreisstadt beim Arbeitsamt vorsprechen, sich dort melden. Dabei wurde ihm das „Stempelgeld“ ausgezahlt: 5,00 Reichsmark, seine Arbeitslosenunterstützung. Das musste eine Woche lang für unsere vierköpfige Familie reichen. Nur gut, dass wir Hühner, Ziegen, ein Schwein und eine Kuh im Stall hatten, und im Garten Obst und Gemüse.
Normalerweise hatte Vater als Gleisbauarbeiter etwa 25 Reichsmark in der Woche verdient. Nicht viel für die körperlich schwere Arbeit, die er bei einer 48-Std.-Woche täglich zu leisten hatte.
Wenn seine Kolonne in einem Streckenabschnitt in der Nähe unseres Dorfes arbeitete, musste ich ihm, wenn es sich mit meinen Schulstunden vereinbaren ließ, manchmal im Essgeschirr das Mittagessen bringen. Dann blieb ich gern auch eine Weile, ließ mir dies und jenes erklären, sah wie die Männer mit ihren schweren Stopfhacken den Schotter unter Schwellen und Schienen hineinschlugen. „Stopfen“ nannten sie das. Von mal zu mal wurde die Messlatte angelegt, die Waagerechte zu prüfen oder in der Kurve die erforderliche Neigung des Gleises.
Aufregend war es, wenn der hinter dem Ende der Baustelle stehende Sicherheitsposten in sein Signalhorn blies. Er „tutete“, und es ertönten hintereinander laut krächzende Trompetenstöße, die einen herannahenden Zug ankündigten. Die gewarnten Männer hielten inne in ihrer Arbeit, griffen nach Hacken und Geräten und traten heraus aus dem Gleis, um an der Bahndammseite stehend, den herankommenden Zug an sich vorbeibrausen zu lassen. Mir schien oft, sie stünden zu nahe dran, ihre Hosen und Jackenärmel flatterten im Fahrwind des Zuges. Ich wusste: 80 km pro Stunde auf freier Strecke! Auch die Kurven ausgebaut für diese Geschwindigkeit! Am schnellsten die „86“, eine Tenderlokomotive der Baureihe 86, für mich die schönste Lokomotive auf unserer Nebenstrecke Hirschberg – Sagan, meine Lieblingslokomotive! Einmal, mein Vater arbeitete gerade auf der Bahnstation des Nachbardorfes, bot sich für mich die Gelegenheit! Ich durfte hinaufsteigen und hineinklettern in „meine 86“. Der Lokführer – mit Schlips und Kragen – ließ mich seinen Führerstand bestaunen. Der freundliche kohlegeschwärzte Heizer öffnete für mich die schwere gusseiserne Klappe zum Feuerkessel. Ich starrte hinein in die grell heißen Flammen des brodelnden Feuers und konnte dann zusehen, wie er etliche Schaufeln großstückiger Steinkohle in den Feuerschlund hineinwarf und wie da drinnen das Fauchen und Rumoren zunahm.
Ich war stolz auf dieses Erlebnis, und ich weiß, es hat mein durch meinen Vater gewecktes Interesse für die Eisenbahn noch mehr bestärkt. Ich liebte die Eisenbahn, sie hatte etwas Dämonisches an sich, und sie war für mich wie ein technisches Wunder. Und: Keiner meiner Schulkameraden kannte sich mit ihr besser aus als ich.
„Bahner“ nannte mich unser Lehrer in der Schule. Ich war ja der Sohn des „Bahners“, des Bahnarbeiters. Mich störte dieser Spitzname nicht. Im Gegenteil, es gefiel mir, so genannt und hervorgehoben zu werden. Mein Bruder Helmut und ich, wir waren die einzigen Jungen, die einen Vater als Eisenbahner und dadurch auch entsprechende Kenntnisse in Sachen „Eisenbahn“ vorzuweisen wussten.
Die meisten unserer Mitschüler waren Bauernkinder. Einige Väter waren Gutsarbeiter. Andere arbeiteten als Zimmerer oder Maurer in der nahen Kreisstadt. Eisenbahner gab es nur vier im Dorf. Und unser Vater war ja – was wir Jungen sehr genau nahmen – nicht nur Gleisbauarbeiter, sondern zugleich „Hilfsrottenführer“. Das heißt, er vertrat gelegentlich den „Rottenführer“, den Leiter der Gleisbaukolonne.
Einmal sogar – ich erinnere mich – hatte unser Lehrer bei irgendeiner Personalbefragung meinen Vater unter der Rubrik „Angestellter“ eingeordnet, was ich als nicht zutreffend richtigzustellen versuchte. Aber er meinte, so ähnlich wie Angestellter, denn er sei ja im festen Arbeitsverhältnis. Doch das hatte sich in den Jahren zuvor, wie schon gesagt, als unwahr erwiesen, als unser Vater gleich den anderen Arbeitern im Dorf arbeitslos geworden war. Das war 1931 – 32 … 33, die Zeit mit 6 Millionen Arbeitslosen in ganz Deutschland.
Man „saß zu Hause“ jetzt, und mancher überlegte, mit welcher einträglichen Nebenbeschäftigung er seine „freie Zeit“ ausfüllen könne. Mein Vater ging zeitweise mit seinen Kollegen in den Wald, wo sie auf Kahlschlägen Baumstöcke rodeten, die zu Hause dann zu Brennholz zersägt und zerhackt wurden. In einem Winterhalbjahr hatte er auch aus herbeigeschafftem Birkenreisig in unserer Wohnstube Kehrbesen hergestellt, um sie in der Stadt zu verkaufen. Und es lag auch in der Arbeitslosenzeit, als mein Vater mit Hilfe unseres Nachbarn begann, hinter dem Haus einen massiven Schuppen zu bauen.
Unsere Mutter war Hausfrau. So hieß das, wenn die Ehefrau nicht einer beruflichen Tätigkeit nachging, sondern zu Hause die Kinder betreute und Küche und Hauswirtschaft bestellte. Wie bei anderen Arbeiterfamilien in unserem Dorf, zählte zur Hauswirtschaft meist ein kleinbäuerlicher Erwerbszweig mit Kleinvieh, Obst- und Gemüsegarten und einem Morgen Land hinterm Haus. Wir Jungen hatten die Kaninchen zu füttern und mussten wochentags das Futter für die Kuh vorbereiten. Letzeres war eine uninteressante, langweilige Arbeit, die wir möglichst aufschoben oder um die wir uns herumdrücken wollten, der wir aber nie entgehen konnten. Mutter, die uns zu diesem täglichen Pflichtpensum anhielt, hatte manchmal Ärger mit uns. Da gab es gelegentlich Streit um die gerechte Teilung der Arbeiten zwischen meinem Bruder und mir. Oder wir hatten viel interessantere Freizeitbeschäftigungen im Sinn als „Rieben schorben“ für unsere Kuh.
Und damit bin ich bei unserer Kuh. Wir nannten sie Muschka,