Judy Markham tippte mit dem Finger auf einen Namen in dem Buch. »Dieser Widerling. Dieser glatzköpfige, schwitzende kleine Scheißkerl. Macht mich an. Ich hab ihm viermal gesagt, dass ich einen Freund hab. Er hat gesagt, El Grosso da –«, sie wies heftig in die Richtung von Fergus Parkers Büro, »erzählt rum, ich würde es ihm für Geld machen. Sooft er will. Er hat mir fünfzig Dollar geboten! Ich hoffe, El Grosso hat sechs Stunden gebraucht, um zu sterben!«
Kate sagte nüchtern, beeindruckt von ihrem wilden Zorn: »Hat Mr. Parker Sie jemals sexuell belästigt?«
»Mit seinem großen fetten verdammten Maul«, zischte sie. »Dreckige Reden, verstehen Sie? Er konnte nicht mal guten Tag sagen, ohne was über meine Titten zu sagen. ›Guten Morgen, Mr. Parker‹, ›Guten Morgen, Judy, was für ein hübscher Pullover, du siehst so appetitlich aus wie Eiscreme, hmm-hmmm.‹ Äh! Und wie er mich angesehen hat! Als würde er mich mit seinen Schweinsäuglein ficken!«
Ich weiß nicht, ob ich mich jemals daran gewöhnen werde, wie selbstverständlich junge Frauen diesen Slang verwenden, dachte Kate. »Sie wollten mir das nicht erzählen, als Mr. Freeman zuhörte. Warum nicht?«
»Er würde sich aufregen. Er ist ein netter Typ.«
»Miss Markham, es ist sein Job, sich über solche Dinge aufzuregen. Warum haben Sie sich nicht bei ihm beschwert?«
»Worüber hätt ich mich beschweren sollen?«
»Sexuelle Belästigung. In diesem Bundesstaat wird sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zunehmend mit harten Strafen geahndet.«
Judy Markham brach spöttisch in schallendes Gelächter aus. »Kommen Sie, Cagney. Sie wissen doch, wie das ist. Ich bin eine Blondine, eine Empfangsdame. Wenn ich mich beschwere, sitze ich bis zum Arsch in der Scheiße. Gesetze ändern da überhaupt nichts. Sie denken, ich lasse mir zu viel gefallen? Ich habe eine Freundin, Susie ist Stewardess. Flugbegleiterin nennen sie das jetzt. Sie sollten Susie mal hören. Die Typen denken, sie können sich alles erlauben. Nicht alle sind so wie El Grosso, aber solche Bemerkungen muss ich mir ständig anhören. Und Sie glauben doch nicht, dass es woanders anders wäre.«
»Ich weiß es wirklich nicht, Miss Markham«, sagte Kate sanft. »Ich weiß nur, dass Gesetze dazu da sind, die Menschen zu schützen.«
»Hey, Cagney, Sie sind wirklich nett.« Judy Markham schüttelte sich wieder die Haare aus dem Gesicht. Sie sah Kate mit naiven blauen Augen vieldeutig an. »Sie können mich Judy nennen.«
Kate bewahrte einen neutralen Gesichtsausdruck und sprach mit sorgsam ausdrucksloser Stimme. »Ich weiß das zu schätzen, Miss Markham. Würden Sie jetzt bitte Mr. Freeman ausrufen?«
»Oh, Scheiße. Ich soll zurückgehen und weiter Akten sortieren?«
»Es dauert nicht mehr lange, bis wir dieses Stockwerk wieder fürs Publikum freigeben können. Ich weiß Ihre Geduld zu schätzen.«
»Sicher, Cagney.« Wieder der vieldeutige Blick. Judy Markham schlenderte mit wiegenden Hüften aus dem Empfangsraum.
Kate, die mit intensiver Konzentration grobe Skizzen fertigte, ging schweigend durch die Korridore, ignorierte die neugierigen Gesichter, die sie anstarrten, notierte sich Namen, schritt die Entfernungen zum Treppenhaus und zum Empfangsraum ab. Gail Freeman schlenderte neben ihr her, die Hände in den Hosentaschen, und nannte lakonisch Namen und Titel. Wieder gingen sie am Tatort vorbei, an Billie Sullivan, die telefonierend an ihrem Schreibtisch saß und sich mit mageren, knochigen Händen durch ihr karottenrotes, strähniges Haar fuhr, und an einer Tür mit der Aufschrift Herren Privat.
»Der Waschraum der leitenden Angestellten«, sagte Gail Freeman. »Natürlich muss man einen Schlüssel haben, um da reinzukommen. Es gab einen ziemlichen Aufstand, als Gretchen Phillips zur Verkaufsleiterin ernannt wurde, aber keinen Zugang zum Waschraum erhielt. Ihr hätte es nicht egaler sein können, aber die anderen Frauen waren so wütend wie Hornissen.« Er lachte in sich hinein.
»Was haben Sie getan?«
»Nichts. Ich tue nur etwas, wenn ich etwas tun kann.« Er blieb vor der nächsten Tür stehen. »Zum Beispiel hier. Textverarbeitung. Ziemlicher Betrieb da drinnen.« Er schob die schwere Tür auf.
Ein unablässiges Tapper-tatap kam von den Tastaturen der Geräte, an denen eine Reihe Frauen mit Kopfhörern arbeitete. Weiße Schrift blinkte wild auf einem halben Dutzend leuchtend grüner Bildschirme. Eine winzige schwarze Frau stand auf, raste zu einem riesigen orangefarbenen Papierkorb, schleuderte eine Armvoll Papier hinein und raste zurück zu ihrem Computer. Zwei Fernschreiber spuckten unaufhörlich gelbes Papier aus. An einem Telefon gestikulierte eine orientalisch aussehende Frau in ausdrucksvoller Frustration. Ein Faxgerät surrte rhythmisch.
Kate betrachtete diesen Strudel von Aktivität. Ihr fiel auf, dass der Geräuschpegel doch noch relativ niedrig war. Die Decke und die Wände waren mit schallschluckendem porösem Kork bespannt. Der braune Teppich wirkte etwas unansehnlich durch seine vielen Löcher – die offensichtlich wegen häufigen Umbaus der elektrischen Anschlüsse entstanden waren – und er war ungewöhnlich dick. Vier oder fünf Frauen hatten aufgeblickt, als die Tür geöffnet wurde. Sie winkten Gail Freeman zu, der die Grüße mit einem Lächeln und dem Heben seiner Hand erwiderte. Er ließ die Tür zufallen, der Lärm hörte abrupt auf.
»Eine Fabrik«, sagte Kate.
»Ja. Und die Frauen da drin sind so gute Leute, sie arbeiten so hart … Sind Sie jemals in einer Fabrik gewesen?«
»Nein.« Langsam gingen sie weiter den Korridor entlang.
»Ich komme aus einer Fabrikarbeiterstadt. Toledo. Ich habe in einer Reifenfabrik gearbeitet. Der Lärm ließ einem fast das Trommelfell platzen. Genauso laut war es in dem Raum, den wir eben gesehen haben, bis ich es geschafft habe, die schallisolierenden Wände und den Teppich anzuschaffen. Aber ohne Guys Hilfe hätte ich diese Änderungen nie durchführen können.«
»Warum nicht, Mr. Freeman?«
»Firmenetat.« Er sagte das Wort in einem Ton, in dem sie andere Leute die übelsten Schimpfwörter hatte sagen hören. »Fergus Parker sagte mir, unser Etat würde eine derartige Ausgabe nicht erlauben. Aber sogar in dieser unsicheren Wirtschaftslage mit sinkendem Verkauf und sinkenden Löhnen fand Fergus Parker nichts dabei, die gesamte Vertriebsabteilung der Firma zu einer, ich zitiere, ›Geschäftskonferenz‹ nach San Francisco einzuladen. Das hat Tausende gekostet, alle Spesen wurden bezahlt, nichts war zu gut dafür. Und ich bin schon auf derartigen ›Konferenzen‹ gewesen und weiß, wie wenig das mit den sogenannten ›wichtigen Geschäften‹ zu tun hat. Aber der Etat erlaubte es nicht, die paar tausend Dollar auszugeben, die das Arbeiten in diesem Raum auch nur einigermaßen erträglich machen würde. Guy Adams sagte schließlich, ich solle es einfach machen lassen und ihm die Rechnungen geben, er würde das mit der Firma regeln.«
»Und woher nimmt Mr. Adams diese Vollmacht?«
»Nahm«, korrigierte Gail Freeman traurig. »Er ist ein Neffe des Firmeninhabers – aber der alte Guy Adams starb letztes Jahr, und seitdem wird die Firma reorganisiert.« Er blieb stehen. »Das ist Guys Büro. Ein bemerkenswertes Büro, nicht?«
Kate sah nicht das Büro an, sondern den Mann, der halb auf der Ecke seines Schreibtisches saß und telefonierte, mit dem Gesicht zum Fenster, ihnen den Rücken zugekehrt. Sie bekämpfte wieder eine spontan aufsteigende Abneigung, studierte die sorgsam frisierten rötlich-blonden Haare, die lässige Breite der Schultern, den schlanken Körper, die schmale, durch das perfekt geschnittene, cremefarbene Jackett noch betonte Taille. »Ich werde mich darum kümmern, betrachten Sie es als erledigt«, sagte Guy Adams gerade. Seine Stimme war weich und rauchig, sie erinnerte Kate an die Stimme eines Schauspielers aus einem alten Kriegsfilm, den sie in ihrer letzten schlaflosen Nacht im Spätprogramm gesehen hatte. Aldo Ray hieß der Schauspieler, fiel ihr zu ihrer Befriedigung ein. Dann legte Guy Adams den Hörer auf, drehte sich um und sah sie mit erschreckten, sich weitenden Augen an. Sie machte