Sie konnte sich Stephies verächtlichen leisen Kommentar vorstellen. »Ein vollendetes Beispiel, meine liebe Ellen, für die geistige Armut der Geschäftswelt.«
Auf der anderen Seite des Raumes sah sie mehrere dunkle, durch dünne Wände voneinander abgetrennte Büros und entzifferte den verblassten Schriftzug auf einer Glastür: Buchhaltung. Luther Garrets Büro. Sein Name war einer der wenigen, an die sie sich von gestern erinnerte. »Luther«, hatte sie Gail Freeman nachgesprochen. »Wie manche Leute ihre Kinder nennen.« Im selben Moment hatte sie diese Bemerkung gegenüber ihrem neuen Chef bedauert, dessen eigener femininer Name eine unfaire Last für einen Schwarzen zu sein schien. Doch er hatte nur zustimmend gelächelt.
Ellen ließ die Tür ins Schloss fallen und ging den Flur hinunter. Ihre hohen Hacken versanken lautlos in dem dicken rostfarbenen Teppich. Vor der nächsten Tür blieb sie stehen. Auf einem an zwei Haken befestigten Schild stand in weißen Buchstaben der Name Fred Grayson. Ihr fiel ein, dass dies das eine Eckbüro sein musste, das sie noch nicht gesehen hatte. Die anderen gehörten Gail Freeman, Fergus Parker – und natürlich Guy Adams mit seinem spektakulären Büro … bei der Erinnerung an ihn musste sie lächeln.
Als sie weiterging, kam sie an den Namensschildern von Harley Burton und Duane Fletcher vorbei. Vor Gretchen Phillips blieb sie stehen. Sie hatte alle diese Verkaufsleiter noch nicht kennengelernt, aber wirklich neugierig war sie nur auf Gretchen Phillips. Wie mochte Gretchens Aufstieg zur Verkaufsleiterin gewesen sein? Oder besser gesagt, was für eine Art Frau mochte das sein, die für einen Mann wie Fergus Parker arbeitete?
Ellen drückte die Tür zum Konferenzraum auf. Um einen mächtigen Tisch aus dunkel poliertem Holz standen ein Dutzend mit schwerem Goldstoff bezogene Stühle. Eine Wand wurde fast völlig von einem Gemälde verdeckt, das vage von Sonnenlicht und sanften Hügeln kündete. Eine verschlossene Glasvitrine enthielt eine Sammlung von Fotozubehör. Ellen warf nur einen kurzen Blick in das Zimmer und schloss dann vorsichtig die Tür. Sie befand sich ganz in der Nähe von Fergus Parkers Büro – in gefährlicher Nähe. Wenn er zufällig früher gekommen wäre …
Aus den Deckenlautsprechern waberte seichtes Musikgedudel, als Ellen auf dem mit Teppichboden ausgelegten Korridor wieder zurückging, vorbei an Fred Graysons Büro, ihrem eigenen und dem von Gail Freeman. Sie schlenderte weiter durch den Korridor zu den rein funktionalen Bereichen wie Materiallager, Fotokopierer, Pausenräumen, Küche und Esszimmer. Als sie die offene Küchentür erreichte, stieg ihr Kaffeegeruch in die Nase.
Wer außer ihr war so früh hier? Fergus Parker oder Guy Adams oder beide. Einer von ihnen musste es sein, die anderen Büros hatte sie fast alle gesehen, und wenn nicht jemand hinter geschlossenen Türen arbeitete … Ellen entschied, dass es höchstwahrscheinlich Guy Adams war und fühlte einen freudigen Stich bei dem Gedanken. Fergus Parker würde einen Kaugummiautomaten nicht von einer Kaffeekanne unterscheiden können.
Sie goss sich Kaffee in einen Styroporbecher und nippte anerkennend daran. Zumindest könnte sie Guy Adams noch einen Kaffee anbieten … Sie nahm die Kaffeekanne und ging über den Flur zu seinem Büro. Es war leer. Während sie ihren Kaffee trank, betrachtete sie erneut mit Freude die Zimmereinrichtung: den Rauchtisch mit grünen Lederintarsien im amerikanischen Kolonialstil; einen elisabethanischen Stuhl, dessen Rückenlehne aus rotem Holz zu kunstvoll geschnitzten Schnörkeln gearbeitet war; das Sitzpolster aus Satin schillerte in reich variierenden Blautönen. Neben einem fein gemusterten, silbergrauen Sofa mit klauenförmigen Beinen stand ein Louis-Seize-Sessel aus Elfenbein mit ovaler Rückenlehne und einer weiß und pfirsichfarben schimmernden Polsterung. Der glänzend polierte Kirschholzschreibtisch wurde von einer chinesischen Lampe in der Farbe heller Jade geschmückt. Unter einem Teewagen mit furnierten Intarsienarbeiten lag eine leuchtend rote Perserbrücke, und an den Wänden hingen drei kleine Ölbilder mit englischen Landschaftsmotiven. Durch die Fenster sah Ellen die Berge am Horizont, braune Falten, die allmählich grau wurden. Über dem Meer hing weißer Nebel.
Vom Ende des Korridors kam ein dumpfes Beben, eine leichte rhythmische Vibration des Fußbodens … Sie schaute sich um, doch hinter ihr lag nur der leere Korridor. Dann schlug eine Tür mit so nachdrücklicher Gewalt zu, dass Ellen vor Schreck beinahe die Kaffeekanne fallen ließ. Sie machte automatisch einen Schritt auf Fergus Parkers Büro zu, hielt dann aber inne. Was immer da hinten passierte, ging sie nichts an. Dann hörte sie ein lautes, fortgesetztes Krachen, als ob Glas zertrümmert und zerbrochen würde. Als sie den Korridor hinuntereilte, war das Geräusch immer noch zu hören.
Sie verlangsamte ihre Schritte, schaute in Fergus Parkers Büro und blieb wie angewurzelt stehen. Diesmal ließ sie die Kaffeekanne fallen. Fergus Parkers fahrbare Bar war umgestürzt, auf dem hellen Teppich breitete sich eine klumpige Masse aus Glasscherben und schmutzigem Rot und Braun aus. Fergus Parker saß in seinem großen Ledersessel am Schreibtisch, die Arme flehend ausgebreitet, die Hände voller Blut, mit hervortretenden Augen, deren Pupillen wie Rosinen auf Eiweiß aussahen. Von dem Gegenstand mit dem Elfenbeingriff, der in seiner Brust steckte, quoll ein breiter Strom hellen Blutes und zeichnete sich scharf auf der weißen Hemdbrust ab.
Ellen begann zu schreien und schlug im selben Moment die Hand vor den Mund. Sie war allein mit einem Mörder.
Als sie in eines der Büros flüchten wollte, um sich zu verstecken, blieb sie wie gelähmt stehen. Der Gedanke, die Sicherheit dieses menschenleeren Korridors zu verlassen, erfüllte sie mit Entsetzen. In jedem Büro, in das sie laufen würde, könnte der Mörder sein. Wild schaute sie um sich. Wo war die Treppe? Sie konnte sich nicht erinnern. Mit zitternden Knien stolperte sie auf die Doppeltüren zu, die zum Empfangsraum und zu den Fahrstühlen führten. Sie drehte an einem der beiden Türknöpfe und zuckte zusammen, als sie das Klicken des Schlosses hörte. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt. Der Mörder könnte in den Korridor kommen, um das Gebäude zu verlassen …
Sie stürzte in den Empfangsraum, versteckte sich hinter Judy Markhams großem schwarzem Tisch und kauerte sich auf den Boden.
NOTRUF: 5000. Die großen roten Zeichen, auf einem durchsichtigen Plastikschild ans Telefon geklebt, zogen Ellens Blick an. Während sie sich weiter geduckt hinter dem Schreibtisch hielt, zog sie vorsichtig den Hörer von der Gabel, schaltete die Telefonanlage ein und drückte mit steifen Fingern die Notrufnummer.
»Carlson.«
»Bitte, ich …«
»Ich kann Sie nicht verstehen.«
»Bitte, jemand ist tot –«
»Um Himmels willen – wo sind Sie?«
»Sechzehnter Stock.«
»Fünfzehnter Stock? Ich kann Sie nicht verstehen.«
»Sechzehnter.« Ellen wollte schreien, doch heraus kam nur ein heiseres Flüstern. »Hören Sie, hier ist ein Toter, und wer immer es getan hat, ist wahrscheinlich noch hier –«
»Um Himmels willen! Bleiben Sie genau da, wo Sie sind, und rühren Sie sich nicht von der Stelle.«
Ellen legte den Hörer auf und schlang beide Arme um sich, sie fror und begann heftig zu zittern, während sie zusammengekauert auf dem Boden saß. Ihre Zähne hämmerten unkontrolliert aufeinander.
Er hört mich, er kommt heraus und hört mich. Ich muss sterben. Und das, wo Mutter von mir enttäuscht ist und Stephie wütend, weil ich überhaupt hier bin.
Auf Augenhöhe sah sie an der Wand einen Regler mit der Aufschrift Musik, der auf einer Skala von insgesamt zehn Einheiten auf vier eingestellt war. Ellen schob den Regler auf zehn hoch und saß von heftigem Schüttelfrost überfallen auf dem Boden, während die Vorhalle von Red Sails in the Sunset widerhallte. Ein Fahrstuhllicht blinkte, die Tür öffnete sich und zwei blaugekleidete Männer mit gezogenen Waffen kamen vorsichtig heraus.
Sie sprang auf. Die Waffen richteten sich ruckartig auf sie. »Ich habe Sie angerufen! Ich bin es.«
»Verdammt!«, brüllte ein muskelbepackter blonder Wachmann und ließ die Waffe sinken, die er mit beiden Händen zitternd umklammert hielt. »Beinah hätte ich Sie