An diesem Prozess der Formierung von Naturwissen zur Biologie hatte auch die Philosophie teil. Keineswegs standen die naturphilosophischen Reflexionen, die sich am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts häuften, den empirischen Forschungen und dem wissenschaftlichen Wissen feindlich gegenüber – wie es neukantianische Lesarten lange Zeit behaupteten.12 »Der Zusammenhang zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft«, so der Wissenschaftshistoriker Dietrich von Engelhardt, war in den Jahren 1780 bis 1830 »eng und wirkungsvoll […]. Alle entscheidenden Philosophen der Zeit haben über das Verhältnis des Menschen zur Natur und über die Möglichkeiten der Naturerkenntnis in einem bislang nicht wieder erreichten Ausmaß nachgedacht. Ebenfalls, wenn auch nicht in diesem Umfang, haben sich Naturwissenschaftler um 1800 unmittelbar mit naturphilosophischen Entwürfen auseinandergesetzt«.13 Liest man also Naturphilosophien um 1800 vor diesem Hintergrund und setzt sie einerseits in ihre wissenschaftshistorischen Bezüge ein, andererseits in die Globalisierungsprozesse des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, zeigt sich, dass sie Teil einer doppelten Verflechtungsgeschichte sind: Verflochten in die epistemischen Transformationsprozesse, die die Ordnung des Wissens um 1800 betreffen, sind sie – im Sinne jener »entangled histories«, von denen die postkoloniale Theorie spricht – auch verflochten in jene Prozesse, in denen sich die europäische Moderne durch koloniale Begegnungen mit außereuropäischen Gesellschaften und Naturverhältnissen konstituiert. Dies soll im Folgenden am Beispiel von Kant aufgezeigt werden.
Die Konstitution von Globalität
Globalität ist eine zentrale Dimension in jenen Aufsätzen, in denen Kant den Begriff der Rasse entwickelt. Es handelt sich dabei erstens um den Text Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775), zweitens Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse (1785) und drittens Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788). Der erste dieser Texte wurde zunächst als Ankündigung für Kants Vorlesungen zur Physischen Geographie abgefasst, die bereits seit Mitte der 1750er Jahre regelmäßig im Wintersemester stattfanden und im Sommersemester durch Vorlesungen zur Anthropologie ergänzt wurden. Der Text beginnt damit, dass Kant unter Bezug auf Reiseberichte einen in den Forschungsexpeditionen weltumfassend gewordenen europäischen Erfahrungshorizont aufruft. Kant zieht Beschreibungen von verschiedenen Forschungsreisenden und Missionaren heran, die im ausgehenden 18. Jahrhundert unter dem gebildeten Publikum zirkulierten. Dabei erstellt er eine Art globaler Kartografie der menschlichen Bevölkerungen. Anhand eines kategorialen Schemas von vier Rassen unternimmt Kant eine »Einteilung der Menschengattung«, das heißt eine Zuordnung der Bevölkerungen der verschiedenen Kontinente zu diesen Kategorien.
»Zu der erstern [Rasse], die ihren vornehmsten Sitz in Europa hat«, so Kant, »rechne ich noch die Mohren (Mauren von Afrika), die Araber […], den türkisch-tartarischen Völkerstamm, und die Perser, imgleichen alle übrigen Völker von Asien, die nicht durch die übrigen Abteilungen namentlich davon ausgenommen sind. Die Negerrasse der nordlichen Halbkugel ist bloß in Afrika, die der südlichen (außerhalb Afrika) vermutlich nur in Neuguinea eingeboren […], in einigen benachbarten Inseln aber bloße Verpflanzungen. Die kalmuckische Rasse scheint unter den Choschotischen am reinsten, unter den Torgöts etwas, unter den Dsingorischen mehr mit tartarischem Blute vermischt zu sein, und ist eben dieselbe, welche in den ältesten Zeiten den Namen der Hunnen, später der Mungalen (in weiter Bedeutung) und jetzt der Ölöts führt. Die hindastanische Rasse […]«14.
In Kants Text häufen und vervielfältigen sich die Unterscheidungen und Bezeichnungen. »Die größte Schwierigkeit« besteht für ihn denn auch, wie er schreibt, darin, angesichts der »Mannigfaltigkeit der Rassen auf der Erdfläche«, einen »Erklärungsgrund« zu finden – nicht unbedingt für die Mannigfaltigkeit überhaupt, sondern für ihre spezifischen Formen und Verteilungen. Es bedarf, so Kant, einer Erklärung dafür, »dass ähnliche Land- und Himmelsstriche doch nicht dieselbe Rasse enthalten, dass Amerika in seinem heißesten Klima keine ostindische, noch viel weniger eine dem Lande angeborne Negergestalt zeigt, dass es in Arabien oder Persien kein einheimisches indisches Olivengelb gibt, ungeachtet diese Länder in Klima und Luftbeschaffenheit mit jenem Lande sehr übereinkommen«15. Indem Kant auf diese Art und Weise Klimata, geografische Lagen und Bevölkerungen vergleicht, konstituiert er sie als globale. Der Erklärungsanspruch, unter den Kant die verschiedenen Bevölkerungen subsumiert, situiert sie in einem globalen Zusammenhang. Dabei führt Kant zudem Prozeduren und Praktiken der kolonialen Mobilisierung von Menschen und der Neuzusammensetzung von Bevölkerungen an, wenn er von den »Verpflanzungen (Versetzungen in andere Landstriche)« und von den »Vermischungen« der Menschen in der Fortpflanzung spricht.16 Die Gewaltverhältnisse, in denen diese Praktiken stattfinden, bleiben dabei außer Acht. Vielmehr entwickelt Kant eine Kombinatorik der »Vermischungen«, die dem Castas-System, das in den spanischen und portugiesischen Kolonien die Verteilung von Rechtstiteln ausgehend